Die Experten ratlos gemacht
26.07.2019 Wohlen«Zeitzeugen»: Martin Burkard siegte 1973 als jüngster Kandidat in der Quizsendung «Wer gwünnt?»
Er musste lange um seinen erspielten Gewinn bangen. Letztlich wurde Martin Burkard aber Champion in der damals wohl beliebtesten Quizsendung des ...
«Zeitzeugen»: Martin Burkard siegte 1973 als jüngster Kandidat in der Quizsendung «Wer gwünnt?»
Er musste lange um seinen erspielten Gewinn bangen. Letztlich wurde Martin Burkard aber Champion in der damals wohl beliebtesten Quizsendung des Schweizer Fernsehens. Drei weitere Auftritte folgten. «Ich habe die Sendungen selber nie mehr gesehen», sagt er heute.
Chregi Hansen
Anfang der 70er-Jahre war ein TV-Gerät noch immer etwas Besonderes. Längst nicht jede Schweizer Familie besass eines. Auch die Eltern von Martin Burkard hatten lang keinen eigenen Fernseher. «Als Bernhard Russi 1972 die Abfahrt an den Olympischen Spielen in Sapporo gewann, mieteten wir bei Jacky Sauter ein Gerät, um das Rennen zu sehen», erzählt Burkard heute.
Anders die Familie seiner damaligen Freundin und heutigen Frau Ruth. Dort stand eines dieser Wundergeräte in der Stube. Und hier schaute der erst 18-jährige Schüler regelmässig die Sendung «Wer gwünnt?». Die Quizshow mit dem berühmten und beliebten Mäni Weber als Moderator war ein Strassenfeger und lockte alle drei Wochen die halbe Schweiz vor die Glotze. «Mir fiel auf, dass ich viele Fragen auch beantworten konnte. Irgendwann hatte ich das Gefühl: Da könnte ich gewinnen.»
Camus als Spezialgebiet
Burkard besuchte zu jener Zeit die Kantonsschule in Aarau. Heute, 46 Jahre später, ist er genau dort Rektor. Eine gute Allgemeinbildung hatte er schon damals. Und die kam ihm für die Sendung zugute. Er meldete sich an, wurde an ein Casting in ein Hotel eingeladen und schliesslich ausgewählt. Als persönliches Spezialthema wählte Burkard das Leben und Werk von Albert Camus. «Ich habe schon immer viel gelesen und hatte kurz zuvor sein Buch ‹L’étranger› kennenund schätzen gelernt», erklärt er und fügt augenzwinkernd an: «Zudem war sein Werk überschaubar, Camus ist ja relativ jung gestorben.»
An seinen ersten Auftritt in der Sendung «Wer gwünnt?», die am 17. November 1973 zu sehen war, erinnert er sich noch heute ganz genau. Denn sie sorgte schweizweit für Schlagzeilen. Grund: Martin Burkard scheiterte in der Finalrunde bei der allerletzten Frage und verlor sein ganzes Geld. Meinte man zumindest. Doch der junge Mann wehrte sich.
Die Sache mit den Übersetzungen
«Zu meinem Spezialgebiet gehörten nur die Werke von Camus, die ins Deutsche übersetzt waren. Die letzte Frage bezog sich aber auf ein Theaterstück, das es in Deutsch nicht gab», erklärte Burkard. Die Aufzeichnung wurde damals unterbrochen, die Experten diskutierten minutenlang, waren sich unsicher. Schliesslich durfte Burkard ein zweites Couvert mit Fragen ziehen, beantwortete diese alle richtig und gewann so den Titel. Zwischen der Aufzeichnung der Sendung am Mittwoch und der Ausstrahlung am Donnerstag wurde weiter diskutiert. War allenfalls in der DDR doch eine deutsche Ausgabe des Theaterstücks erschienen? Letztlich aber blieb Burkard Champion. «Obwohl es eine Aufzeichnung war, liess man die Szene drin. Darüber haben nachher alle Medien berichtet», erzählt der Wohler. «Macht doch ‹Wer gwünnt?› nicht kaputt», titelte der «Blick». «Experten im Dilemma» war eine weitere Schlagzeile.
Viel Geld für einen jungen Kantischüler
Überhaupt: Die Reaktionen nach seinem TV-Auftritt waren heftig. «Ich wurde überall darauf angesprochen. Ich erhielt Bettelbriefe, aber auch Fanpost von jungen Mädchen», berichtet er. In der Folge berichteten viele Zeitungen über den cleveren 18-Jährigen. «Vor meinem zweiten Auftritt begleitete mich ein Journalist sogar zum Coiffeur und fotografierte mich beim Haareschneiden», erzählt er lachend.
Der Sieger des Abends durfte jeweils bei der nächsten Sendung wieder dabei sein. Dreimal erspielte sich Burkard jeweils den höchsten Betrag. Beim vierten Mal schied er dann aus. Er weiss noch genau, an welcher Frage er damals scheiterte. «Sie wollten wissen, wie viele Personen in einem bestimmten Theaterstück auf der Bühne zu sehen sind. Das bekam ich auf die Schnelle und unter Druck nicht zusammen. Vermutlich haben sie eine extra schwere Frage genommen, damit es wieder mal einen neuen Champion gibt», mutmasst Burkard heute.
Er selber nahm die Niederlage locker. Rund 10 000 Franken erspielte er sich in den ersten drei Sendungen. Kein Vergleich zu den Summen, die heute ausbezahlt werden. «Aber für mich als Schüler war das enorm viel Geld.» Vieles weiss er noch, als wäre es gestern gewesen. Beispielsweise die Frage, wer im Entscheidungsspiel zur Fussball-WM 1962 das Siegtor für die Schweiz gegen Schweden geschossen hatte. «Als dieses Spiel stattfand, war ich erst 6 Jahre alt. Ich nannte den einzigen Spieler, dessen Namen ich von den Fussballbildli her noch kannte.» Die Antwort war richtig. «Später hat mir ein guter Freund erzählt, er habe bei dieser Szene vor dem Fernseher gekniet und Blut und Wasser geschwitzt.»
Keine Aufnahmen vorhanden
Er selber hat seine Auftritte im Fernsehen nie mehr gesehen. Und Aufnahmen gibt es heute auch keine mehr. «Freunde wollten mir zum 40. Geburtstag eine Freude machen und haben deswegen beim Schweizer Fernsehen nachgefragt. Aber die Sendung wurde nicht archiviert. Und Videogeräte gab es noch keine», erzählt er. So blieb nur eine Tonkassette, die jemand von der Sendung angefertigt hat. Und ganz viele Zeitungsausschnitte, die seine Frau gesammelt hat und daraus ein Album gestaltet hat. Sie zeigen, dass Martin Burkard damals durch die Sendung ganz schön populär wurde. «Ehrlich gesagt, war mir das damals fast etwas peinlich», sagt er heute.
Von den aktuellen Quizsendungen schaut sich der passionierte Tennisspieler höchstens «Wer wird Millionär?» an. Allerdings würden sich die Formate nicht vergleichen lassen. Bei «Wer wird Millionär?» erhält der Kandidat immer eine Auswahl an Antworten. Bei «Wer gwünnt?» musste man alles selber wissen. Die Themen für die Zwischenrunde erhielten Burkard und seine Kontrahenten einen Tag vorher zugestellt. In ganz kurzer Zeit musste sich Burkard ganz viel Wissen aneignen – und das in einer Zeit, in der es noch kein Internet, Google oder Wikipedia gab. «Ich hatte immer Leute, die mich unterstützten. Einmal gab es das Thema Pilze, da brachte mir ein Sammler ein Buch vorbei. Oder ich bekam einen Crashkurs durch den Trachtenverein und konnte dann sogar eine Tracht richtig zuordnen», ezählt er lachend. Da sei eben der Vorteil gewesen seines jugendlichen Alters.
«Als Kantischüler ist man gewohnt, sehr viel Wissen in ganz kurzer Zeit ins Hirn zu schaufeln. Was davon bleibt, ist eine andere Frage, so der spätere Mittelschullehrer. Anders verhält es sich bei seinem Spezialgebiet, dem Schriftsteller Albert Camus. Der brachte ihm nicht nur im Fernsehen Glück, Burkard nutzte später sein Wissen über ihn auch für die Liz-Arbeit und sogar für die Dissertation. «Und seine Bücher lese ich heute noch gerne», bemerkt Martin Burkard. Nach seiner Pensionierung im kommenden Jahr wird er dafür dann viel Zeit haben.
Serie «Zeitzeugen»
Es gibt Ereignisse in der Region, von denen die Leute nach Jahrzehnten noch erzählen. In der Serie «Zeitzeugen» blicken Menschen auf ein Ereignis zurück, bei dem sie hautnah dabei waren.
Bisher erschienen: Der Empfang für Abfahrtsweltmeister Urs Lehmann in Rudolfstetten im Februar 1993 (Ausgabe 55). Protest gegen den Abbruch des alten Gemeindehauses in Wohlen von 1979 (Ausgabe 56). Die Hochwasserkatastrophe in Muri von 1977 (Ausgabe 57).