«Erinnerungen sind sehr lebendig»
09.07.2019 BremgartenDer Bremgarter Stefan Dietrich interviewt in Israel Überlebende des Holocaust
Seit Jahren besucht der Bremgarter Lehrer Stefan Dietrich mit Schülern die Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Als Historiker führt er nun Interviews mit Überlebenden ...
Der Bremgarter Stefan Dietrich interviewt in Israel Überlebende des Holocaust
Seit Jahren besucht der Bremgarter Lehrer Stefan Dietrich mit Schülern die Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Als Historiker führt er nun Interviews mit Überlebenden des Holocaust, um deren Erinnerungen und damit wichtige Zeitdokumente für die Nachwelt erhalten zu können.
André Widmer
«Die Aufnahmen und Gespräche dauerten jeweils fast einen ganzen Tag. Sie waren für alle Beteiligten sehr belastend. Für die Zeitzeugen selbst war es einmal wegen des hohen Alters, aber auch aufgrund der wieder bewusst gewordenen Erinnerungen sehr emotional und phasenweise waren mehrere Pausen nötig. Die Erinnerungen an ermordete Verwandte und Freunde, Nachbarn, Bekannte sind trotz der zeitlichen Distanz sehr lebendig und schmerzen», erinnert sich Stefan Dietrich. Dieses Jahr war der Historiker und Lehrer aus Bremgarten in Israel, interviewte jüdische Überlebende des Holocaust, die damals auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien lebten. Anfang August wird er erneut aufbrechen, um in Israel Überlebende der Vernichtungslager Auschwitz, Bergen-Belsen und Sobibor zu befragen.
Wurzeln in Südosteuropa
Dass sich Stefan Dietrich mit dem privat geförderten Projekt ausgerechnet auf Überlebende aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien konzentriert, hat seine Gründe. Einerseits ein Interesse aufgrund der Familiengeschichte, denn seine Verwandtschaft war von Kriegsverbrechen betroffen: Dietrich – kürzlich in der Schweiz eingebürgert – hat Wurzeln in Südosteuropa, unter anderem bei den Donauschwaben, Serben, Kroaten und Ungarn, die auch in einem Teil des heutigen Kroatien, Bosnien-Herzegowina und der Vojvodina siedelten. Ein schwarzer Tag ist dabei der 2. August 1941, an dem mehr als 20 Verwandte von der damaligen kroatischen Ustascha – einer faschistoiden Miliz – ermordet wurden. Und die mittelfränkische Stadt Fürth, wo Stefan Dietrich vor seiner Zeit in der Schweiz aufwuchs, sei vor dem Zweiten Weltkrieg zu rund einem Drittel jüdisch bewohnt und als das «bayerische Jerusalem» bekannt gewesen, erklärt er. Der Besuch von Dachau im Alter von 15 Jahren hatte einen starken Einfluss, sich mit der Geschichte der eigenen Familie zu befassen.
Die Frage nach dem Warum
Prägend war für Stefan Dietrich auch das Aufkommen des Nationalismus zu Beginn der 90er-Jahre, als der damalige Vielvölkerstaat Jugoslawien entlang von ethnischen Grenzen auseinanderbrach. «Ich wollte wissen, wie es zu diesen Konflikten kam und wie dieser Hass erzeugt wurde», so Stefan Dietrich. Bei seinem Studium an der Universität Wien und später einem Forschungsprojekt an der Universität Zürich setzte er sich mit dem Nationalsozialismus auseinander.
Und heute treibt ihn auch der aktuell grassierende Revisionismus um, der zu einer fälschlichen Umschreibung der Geschichte führe. «Plötzlich wurden seit den 1990ern diejenigen, die Konzentrationslager betrieben hatten, zu Opfern von denen verklärt, die überlebt haben und sich dann gerächt haben sollen.» Zu wenig und sehr tendenziös befassen sich heute die offiziellen Stellen der neuen Staaten mit den Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges auf ihren heutigen Territorien. Auch die Kriege in den 90er-Jahren sind – vielleicht aufgrund der noch kurzen zeitlichen Distanz – bisher zu wenig historisch aufgearbeitet worden.
Kleinere jüdische Gemeinden
Stefan Dietrich erwähnt aber auch einen weiteren Grund, dass er sich geografisch auf Ex-Jugoslawien konzentriert: «Die jüdischen Gemeinden in Jugoslawien waren im Verhältnis zu anderen Gemeinden relativ klein und konzentrierten sich auf wenige urbane Zentren. Interessant ist auch, dass es im Norden des Landes mehrheitlich Ashkanazen und im Süden mehrheitlich Sephardim gab.» Die beiden Bezeichnungen rühren von den unterschiedlichen Historien der jüdischen Gruppen her. «Die jüdischen Gemeinden im sogenannten ‹Unabhängigen Staat Kroatien› und in dem unter deutscher Militärverwaltung stehenden Serbien wurden nahezu ausgelöscht und das Gros ihrer Mitglieder ermordet», erklärt Dietrich. Der Holocaust auf dem Balkan wurde bisher nicht sehr stark erforscht.
Das jetzige Projekt von Stefan Dietrich ist in drei Teilbereiche gegliedert: Es soll ein Dokumentarfilm entstehen, die Film- und Tonaufnahmen sollen gesichert und archiviert werden («Oral-History-Archiv») und Publikationen sowie Ausstellungen entstehen. «Sinn und Zweck ist es, die letzte Chance zu ergreifen und Gespräche mit Zeitzeugen, mit Holocaustüberlebenden, zu führen und diese aufzuzeichnen und somit diese Aussagen für die nächsten Generationen zu erhalten.»
In katholischem Kloster überlebt
Den Aufenthalt in Israel für die Gespräche mit Zeitzeugen empfand Stefan Dietrich als intensiv. Der Fokus lag dieses Mal auf Interviews mit zwei Ehepaaren.
Einerseits sprach Dietrich in Tel Aviv mit Milo Zeev (ursprünglicher Name Vlado Müller) und seiner Frau Tamar (ursprünglich: Tatjana Danilovic). Beide stammen ursprünglich aus Zagreb, er ist heute 98 Jahre alt, sie 95 Jahre. Sie überlebten, weil sie bei Partisanen und serbischen Bauern unterkamen. Ein Grossteil von Milos Verwandschaft wurde in Jasenovac und Auschwitz ermordet. In Chadera interviewte der Bremgarter Lehrer das Ehepaar Avi Albert Albahari (84, ursprünglich aus Sarajevo) und Mira Albahari (rund 80, geborene Daniljevic, ursprünglich aus Zagreb).
Avis Verwandte wurden in kroatischen Lagern ermordet, er überlebte in einem katholischen Kloster im damals italienisch besetzten Dalmatien dank zweier Nonnen. «Beide Nonnen wurden in den 1990ern zu Gerechten unter den Völkern ernannt. Avi konnte sie vor dem Zerfall Jugoslawiens in Split ausfindig machen und besuchen.» Mira ihrerseits überlebte in der italienischen Besatzungszone, ihr Vater arbeitete damals schon früh mit den jugoslawischen Partisanen zusammen.
«Überraschenderweise existieren in Kroatien heute noch Fotos aus der Zeit der Verfolgung – ohne dass allgemein bekannt ist, dass die als Kind abgebildete Mira heute noch in Chadera lebt.» Beide Ehepaare kennt Stefan Dietrich seit vielen Jahren, in denen sich eine «langjährige, vertrauensvolle und freundschaftliche Beziehung» entwickelt habe. «Diese erleichterte mit Sicherheit die Gespräche.» Diesen Gesprächen dürfte neben der Bekanntschaft untereinander sicherlich auch die Vielsprachigkeit von Dietrich geholfen haben, denn die Interviews erfolgten auf Deutsch, Serbokroatisch oder teilweise auch auf Russisch.
Eine Frage der Haltung
Die intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Stefan Dietrich schon vor diesem Projekt beschäftigte, bestärkt ihn in seiner ganz persönlichen Haltung. Mit Sorge beobachtet er die gesellschaftliche Entwicklung nicht nur auf dem Balkan mit dem Revisionismus, sondern auch in Mitteleuropa, wo wieder menschenverachtende Dinge ausgesprochen werden, die lange Tabu waren.
«Die menschlichen Werte sind wichtiger als irgendwelche Ideologien», ist Stefan Dietrich sicher. Und er ist überzeugt davon, dass Aufklärung, Information und Erinnerung nötig sind für eine Sensibilisierung mit Vergangenheit und Gegenwart. «Es geht hier auch um die Verteidigung unserer Demokratien und Menschenrechte, die Verteidigung unserer Zukunft.»





