Das Leben kennt kein Urteil
28.06.2019 WohlenDer Oberrichter Ruedi Bürgi aus Wohlen geht in Pension
Nach über 30 Jahren am Obergericht geht Ruedi Bürgi in Pension. Ein Grosser tritt ab. Er erzählt von seiner Arbeit, was er im neuen Lebensabschnitt vorhat und wieso eine Frau beim ...
Der Oberrichter Ruedi Bürgi aus Wohlen geht in Pension
Nach über 30 Jahren am Obergericht geht Ruedi Bürgi in Pension. Ein Grosser tritt ab. Er erzählt von seiner Arbeit, was er im neuen Lebensabschnitt vorhat und wieso eine Frau beim Schlussplädoyer einst den «Kriminaltango» vorgesungen hat.
Stefan Sprenger
Es ist das einzige Büro, das mit Namen angeschrieben ist. «Ruedi Bürgi, Oberrichter», steht an der Tür. Alle anderen Richter im Aargauer Obergericht möchten nicht, dass ihr Name an der Tür steht. Auch im Telefonbuch ist Ruedi Bürgi zu finden. Auch dies ist einzigartig in der Justizwelt. Bedroht wurde er nie in all den 28 Jahren als Oberrichter. «Nicht einmal», betont Bürgi. Er überlegt, blickt nach unten und sagt: «Einmal kam jemand zu uns nach Hause. Er wollte aber nur reden.»
Aktenberg über einen Meter hoch
Reden. Das ist etwas, was Ruedi Bürgi gut kann. Und er glaubt, dass durch «aufeinander eingehen im Gespräch» viele Konflikte gelöst werden könnten, bevor sie wirklich ausarten und zu Problemen – oder Delikten – führen. «So viele Missverständnisse könnten vermieden werden», sagt er. Dies gilt sowohl privat und als auch im Beruf.
Ruedi Bürgi – einer von total 26 Oberrichtern im Kanton – steht in seinem Büro. Die Aussicht auf den dahinter liegenden Park ist fantastisch. Er zeigt auf einen Aktenberg, über einen Meter hoch. «Das ist ein aktueller Fall, den ich nun fast durchgearbeitet habe.» Manchmal sind es Hunderte, manchmal Tausende von Seiten zu einem einzigen Gerichtsfall. Der berühmte russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski sagte einst: «Wenn man einmal einen Menschen richtet, dann muss man es mit Kenntnis aller Umstände tun.» Und dies nimmt sich Ruedi Bürgi sehr zu Herzen. Bei allen Fällen, die er als Richter betreute, habe er immer mit bestem Wissen und Gewissen die Urteile gefällt – und eben, möglichst alle Umstände beachtet. Recherchieren. Die verschiedenen Standpunkte betrachten. Sich hineinfühlen. Und – auch während der Verhandlung – beobachten. «Viele denken, Richter zu sein sei eine trockene Angelegenheit. Aber es ist immer etwas, was im wahren Leben stattgefunden hat – und es sind immer Schicksale, die dahinterstehen.»
Diese Einstellung und der Glaube an das Gute im Menschen haben ihn nicht zum Zyniker werden lassen. «Ich bin gerne Richter. Ich mag die Menschen.» Das sagt Ruedi Bürgi nach 28 Jahren, während denen er neben einer ähnlich grossen Zahl von Zivilfällen bei weit über 2000 Straffällen als Richter wirkte. Mord, Körperverletzung, Raub, Betrug, Drogendelikte, allesamt verübt durch Menschen: «Alle diese Menschen haben eine persönliche Geschichte, warum sie auf die schiefe Bahn gekommen sind, und die allermeisten vermögen aus den Fehlern die richtigen Lehren für das künftige Leben zu ziehen. Diese Chance muss man allen geben, ausser jenen, die für die Mitmenschen gefährlich sind.» Dieser Glaube an das Positive scheint bei Ruedi Bürgi unerschütterlich. «Nicht nur dem einzelnen Menschen, sondern vor allem auch der Gesellschaft ist viel mehr geholfen, wenn man einen Delinquenten wieder integriert, statt ihn wegzusperren, und ihm ermöglicht, dass er es schafft, seine schlechten Seiten zu besiegen.»
0:6 und 0:6 verloren – das Lachen aber nicht
Als Ausgleich hatte er den Sport. Den hatte er schon immer. Im TV Wohlen war er von Kindsbeinen an von der Jugi bis zu den «Grossen» aktiv, als Läufer und später vor allem als erfolgreicher Dreispringer. «Halbwegs erfolgreich», lacht der Wohler. Bürgi ist auch Handballer. Dem TV Wohlen – heute Handball Wohlen – ist er treu geblieben, er ist Mitglied beim «Herren Drüü». Und nicht zu vergessen seine Paradedisziplin: das Tennis. Er ist mehrfacher Aargauer Meister und nahm fünf Mal an der Tennis-Weltmeisterschaft der Senioren teil. Meist haben auch viel jüngere Spieler nur wenig Chancen gegen ihn. Vor wenigen Tagen verlor Bürgi aber an den Aargauer Tennismeisterschaften in den Niedermatten Wohlen mit 0:6 und 0:6. Sein Gegner war rund 30 Jahre jünger. «Er weigerte sich, einen Fehler zu machen. Und ich konnte ihn nicht unter Druck setzen. Es war aber ein gutes Spiel gegen einen besseren Gegner. Auch das gehört zum Sport, mit Niederlagen umgehen zu können.» Als er dies sagt, lächelt er. Wie meistens. Es scheint, als ob ihn nicht so rasch etwas aus der Bahn werfen könnte.
1984 gestartet
Zurück am Aargauer Obergericht. Mittlerweile sitzt Ruedi Bürgi im Restaurant Rathausgarten, gleich neben dem Gerichtsgebäude. Jeder, der vorbeigeht, kennt ihn. Und alle begegnen ihm mit grösster Freundlichkeit und Respekt. Diesen Respekt hat er sich durch seinen angenehmen Charakter und sein akribisches Schaffen in all den Jahren erarbeitet. 1984 startete er als Gerichtsschreiber, wurde dann 1991 Oberrichter. Er sei fast Mittelschullehrer für romanische Sprachen geworden. Dies hätte ihm auch gefallen, mit jungen Menschen zu arbeiten, anderen Menschen etwas beizubringen, meint er. Als Jurist sei er dann zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen und habe dazu auch etwas Glück gehabt, wie er selbst sagt. Und wurde Oberrichter. Er füllte dieses Amt hervorragend aus. «Es war mir immer, bis zum heutigen Tag, eine Ehre und war ein Privileg, diesen Job machen zu dürfen.»
«Ruhestand» gibts nicht
In diesen Tagen wird er pensioniert. Wer ihn aber auch nur ein bisschen kennt, der weiss, dass das Wort «Ruhestand» in seinem Wortschatz nicht vorkommt. Sport und Kultur, auch Reisen, die bleiben natürlich in seinem Leben. Er bleibt auch Mitglied im Verbandssportgericht des Schweizerischen Handballverbandes, wo er als Richter auftreten muss, wenn es ein Urteil am sogenannten «grünen Tisch» erfordert. Er möchte mehr Bücher lesen. Er möchte mit seiner Frau Doris Spengler mit dem Camper auf Reisen gehen. Und natürlich möchte er im Tennis (noch) besser werden. «Es ist wichtig, dass man sich immer wieder Ziele setzt, dies auch im Alter», sagt Bürgi, der auch nach der Pension eine gewisse Struktur in seinem Leben möchte. Er weiss, dass das Leben nach der Arbeit – neben all dem Schönen und dem Geniessen – auch eine Herausforderung ist.
Bürgi möchte zudem auch immer wieder Zeit mit seiner Familie verbringen. Jonas Bürgi ist der gemeinsame Sohn von Doris Spengler und ihm. Luca Spengler, der frühere Handball-Nationalspieler, der seine NLA-Karriere bei Kriens-Luzern gerade erst beendet hat, ist nicht sein leiblicher Sohn. «Das war auch eine Geschichte, die das Leben schrieb. Ich habe Luca in meinem Herzen aber immer als mein eigenes Kind angesehen.» Ruedi Bürgi, auch in seinem eigenen Leben kann er abgrenzen, verzeihen, urteilen. Dass seine Worte der Wahrheit entsprechen, sagt eben jener Luca Spengler gleich selbst. «Er hatte immer ein offenes Ohr. Immer. Er fand immer die passenden Worte. Immer. Ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Wirklich immer. Er hatte die besten Ratschläge. Und ich freue mich, nun mehr Zeit mit ihm zu verbringen nach seiner Pension. Ruedi Bürgi ist für mich der beste Vater dieser Welt.» Wie zu hören ist, will Luca Spengler bald von seinem Vater das Tennisspielen lernen.
Am Montag, 1. Juli, wird er offiziell beim Obergericht verabschiedet. Eine Ära endet. Die Ära Ruedi Bürgi. Er sitzt in seinem Büro und erzählt zum Ende von einer Frau, die einen Erbschaftsstreit hatte und weit über 100 000 Franken nur durch Gerichtskosten verlor, weil sie – «wie es leider immer wieder vorkommt» – unbedingt Recht haben wollte und nicht einsah, dass sie damit falsch lag. Sie telefonierte auch immer wieder mit diversen Richtern. Irgendwann hatte niemand mehr ein offenes Ohr – ausser Ruedi Bürgi. Er versuchte ihr beizubringen, dass sie doch einen Anwalt hinzuziehen und sich beraten lassen sollte, sonst verschleudere sie ihr Geld am Schluss noch gänzlich mit aussichtslosen Beschwerden. Gebracht haben seine Worte nichts, doch der Versuch zählt. «Sie schenkte mir dann eine Flasche Bier.» Die durfte er – ausnahmsweise – annehmen.
Der Kriminaltango
Warum diese Anekdote hier erzählt wird, hat zwei Gründe: Erstens soll sie aufzeigen, dass Bürgi für alle stets ein offenes Ohr hat und zum Reden bereit ist. Und andererseits die lustige Geschichte, wie alles endete am Obergericht in Aarau. «Die Frau kam zu ihrer allerletzten Verhandlung und wurde aufgefordert, ihr Schlussplädoyer zu halten. Doch anstatt der abschliessenden Worte zur Sache hat sie ihre Stimme erhoben und dem Gericht den ‹Kriminaltango› vorgesungen.» Bürgi muss lauthals lachen.
Es ist – für einmal – eine witzige Geschichte in der sonst eher aufreibenden Gerichtswelt. Für Ruedi Bürgi ist sowieso bald Schluss. Es ist klar, dass er am Obergericht fehlen wird. Ein ganz besonderer Richter tritt ab, ein lebensfroher Mensch, der stets an das Gute im Menschen glaubt. Ab Montag wird auch der letzte Name an einem Büro im Aargauer Obergericht verschwunden sein.