Damit der Strom weiterfliesst
10.05.2019 WohlenDie vom Schweizer Stimmvolk 2017 beschlossene Energiestrategie 2050 sieht den schrittweisen Umbau des Energiesystems (Ausstieg aus der Kernenergie, Ausbau der erneuerbaren Energien, Erhöhung der Energieeffizienz) vor. Das wird die Energieversorgung der Schweiz noch weit stärker vom ...
Die vom Schweizer Stimmvolk 2017 beschlossene Energiestrategie 2050 sieht den schrittweisen Umbau des Energiesystems (Ausstieg aus der Kernenergie, Ausbau der erneuerbaren Energien, Erhöhung der Energieeffizienz) vor. Das wird die Energieversorgung der Schweiz noch weit stärker vom Wetter abhängig machen. Es wird deshalb viel mehr Flexibilität brauchen, um die Menschen hierzulande sicher und kostengünstig mit Energie zu versorgen.
Diese Aufgabe ist mit energiewirtschaftlichen Herausforderungen verbunden, die nur in einem neuen Gesamtsystem und mit vereinten Kräften zu lösen sind. Genau diesem Ansatz ist die Aliunid-Community verpflichtet, deren Mitglieder aus der ganzen Schweiz stammen. Ein Dutzend Energieversorgungsunternehmen, mehrere Wasserkraftproduzenten und eine Gashandelsfirma haben sich zusammengeschlossen, um mit moderner Technologie eine Schweizer Lösung für ein neues flexibles Versorgungssystem zu schaffen. Auch die Wohler ibw ist dabei.
Stromnetz soll bald «atmen»
ibw bei schweizweitem Feldtest zur künftigen Energieversorgung dabei
Früher war alles anders: Da sorgten die Kraftwerke für Strom, der dann an die Kunden geliefert wurde. Heute produzieren viele Haushalte selber Strom – wenigstens zeitweise. Weil die Energieproduktion flexibel wird, muss es auch die Versorgung sein. Die Start-up-Firma Aliunid bietet jetzt eine Lösung an.
Chregi Hansen
Eigentlich wahnsinnig. Dank des heissen und windigen Sommers wird in Deutschland letztes Jahr so viel erneuerbare Energie produziert wie noch selten. Aber weil der viele Strom nicht verwendet werden kann, heizt die Deutsche Bahn damit ihre Weichen. Im Sommer! «Das ist ein Blödsinn, das wollen wir ändern», erklärt Andreas Danuser, Mitbegründer und Verwaltungsrat der Aliunid AG.
Peter Lehmann, Geschäftsleiter der Wohler ibw und seit Kurzem auch Verwaltungsratspräsident der Aliunid AG, weiss, wovon Danuser spricht. «In unserem Versorgungsgebiet beträgt der Anteil an Solarstrom inzwischen neun Prozent», erklärt er. «Wenn er weiter ansteigt, bekommen wir Probleme», sagt er. Denn wenn plötzlich Wolken aufziehen, kann die Stromproduktion auf einen Schlag um 80 Prozent einbrechen. «Dann müssen wir innert Sekunden reagieren können», erklärt Lehmann.
Flatterenergie sorgt für Probleme
Die Versorgungssicherheit, sie steht trotz Energiewende an erster Stelle. Doch sie ist anspruchsvoller geworden. Denn Sonne und Wind produzieren nicht ständig Strom. Und auch nicht immer gleich viel. Danuser spricht in diesem Zusammenhang von Flatterenergie. Damit die Versorgungssicherheit weiter gegeben ist, braucht es eine intelligente Steuerung. Genau hier will das Start-up-Unternehmen ansetzen.
Ziel ist es, die Energieversorgung in die digitale Welt zu transformieren. Sorgten früher einige grosse Kraftwerke für den Strom, sind durch den Ausbau der Solarenergie ganz viele Haushalte selber Produzenten. In der Vision von Aliunid sollen alle diese Anlagen miteinander kommunizieren. «Wenn ein Haushalt mehr Strom produziert, als er selber benötigt, so gibt er diesen ins System ab. Dieser kann dann an einem anderen Ort eingesetzt werden. Und hat es überall genug, kann damit im Wallis das Wasser in den Stausee gepumpt werden», erklärt Danuser. Damit dies aber klappt, müssen die Versorger und die Abnehmer nicht nur miteinander kommunizieren, sondern es braucht insbesondere eine Echtzeiterfassung des Stromverbrauchs im Sekundentakt. Heisst: Die Haushalte müssen entsprechend ausgerüstet werden.
Energiefl üsse kontrollieren, Schwankungen ausgleichen
Danuser verwendet für das geplante Netzwerk das Bild der «atmenden Versorgung». Bei einem Überangebot von Strom atmet das System ein, wobei die Pumpspeicherkraftwerke als nationale Batterie dienen. Fehlt Strom, wird ausgeatmet, liefern also diese Kraftwerke den nötigen Strom. Aliunid selber koordiniert als virtueller Versorger dank moderner Technik die Energieflüsse und gleicht Schwankungen aus. Und dieses System soll nicht nur im Strombereich funktionieren, sondern etwa auch beim Gas oder bei der Fernwärme.
«Im Labor funktioniert dies, jetzt braucht es Feldtests in der Praxis», sagt Danuser. Diese Woche erfolgte der Start dazu. Mit dabei ist auch die ibw. «Wir haben in Wohlen dank den vielen Solaranlagen gute Voraussetzungen für die Zukunft. Was fehlt, ist eine Steuerungsebene. Eine solche können wir nicht allein entwickeln», begründet Peter Lehmann die Motivation zur Teilnahme.
Datensicherheit hat hohe Priorität
Die ibw sei zudem stets bestrebt, eine Vorreiterrolle einzunehmen. Ihn überzeugt die Lösung, weil sie aus der Schweiz stammt und die Datensicherheit gegeben sei. Heisst: Der Stromverbrauch in den Häusern wird zwar mittels Sensoren und Messgeräten lokal erfasst, die Daten jedoch nur beschränkt weitergegeben. «Das ist eine wichtige Voraussetzung, sonst würden die Kunden nicht mitmachen», ist Lehmann überzeugt.
Die Idee stösst bereits auf grosses Interesse. Und das nicht nur bei den Energieversorgern. So sind mit der Forces Motrices Valaisannes und der Azienda Elettrica Ticinese zwei grosse Wasserkraftproduzenten mit da bei. «Auch wir wollen einen Beitrag leisten zur Versorgungssicherheit mit erneuerbarem Strom», erklärt Paul Michellod, der Direktor der FMN. Mit dem neuen System könne die Waschmaschine im Aargau quasi direkt mit dem Kraftwerk im Wallis kommunizieren. «Mit dem Testlauf wollen wir herausfinden, ob das System nachhaltig und wettbewerbsfähig ist. Nur dann können wir Kunden gewinnen», so Michellod weiter.
Auch andere Organisationen sind an der Studie interessiert. Etwa die Empa, die Berner und die Walliser Fachhochschulen und die Universität St. Gallen. Und nicht zuletzt auch das Bundesamt für Energie. «Das Volk hat Ja gesagt zur Energiestrategie 2050. Um diese Ziele zu erreichen, braucht es Massnahmen auf verschiedenen Ebenen», erklärt Philippe Müller vom BFE. Eine davon sei das Versorgungsnetz. Das Projekt des Start-up-Unternehmens sei daher für den Bund interessant. «Je mehr Daten wir haben, desto besser können wir die Rahmenbedingungen setzen», sagt Müller.
Dank Handy immer über Stromverbrauch informiert
Doch wie will man die Kunden motivieren, zusätzliche Installationen im eigenen Haus zu tätigen? Zum einen sind die Verantwortlichen überzeugt, dass sich damit Strom und letztlich auch Geld sparen lässt. Zum anderen ist es nicht ausgeschlossen, dass es für Kunden, die das System nutzen, Spezialtarife gibt. Nicht zuletzt bekommt man als Nebeneffekt eine Light-Variante eines Smarthome-Systems. Per Handy lässt sich der Stromverbrauch zu Hause zwar nicht steuern, aber zumindest laufend kontrollieren. Wer also unsicher ist, ob er zu Hause die Herdplatte ausgeschaltet hat, kann das in der Ferne überprüfen.
«Und letztlich hat der Kunde die Gewissheit, einen Beitrag zur Energiewende zu leisten», ergänzt Peter Lehmann. Und dass er durchaus bereit ist, dazu auch in die Tasche zu greifen, zeigt die hohe Zahl der Ökostrom-Kunden in Wohlen.