Die grosse Katastrophe
05.04.2019 DottikonVor 50 Jahren in Dottikon
Am kommenden Montag ist es genau 50 Jahre her: Am Dienstag, 8. April, 1969, um 7.17 Uhr, kam es in Dottikon zu einer riesigen Explosion in der Sprengstoff-Fabrik. Das schreckliche Ereignis forderte 18 Menschenleben und über 40 ...
Vor 50 Jahren in Dottikon
Am kommenden Montag ist es genau 50 Jahre her: Am Dienstag, 8. April, 1969, um 7.17 Uhr, kam es in Dottikon zu einer riesigen Explosion in der Sprengstoff-Fabrik. Das schreckliche Ereignis forderte 18 Menschenleben und über 40 Verletzte. Über 50 Kinder verloren dabei ihre Väter. Die grosse Katastrophe hat tiefe Spuren in den Gebäuden und in der Umgebung der Fabrik hinterlassen. Die tiefen Spuren in den Selen seien noch tiefer, hiess es am Gedenkgottesdienst, der damals in Villmergen abgehalten wurde. Das Team von «Zeitgeschichte Aargau» ging 50 Jahre später dem Ereignis nach, suchte Zeitzeugen auf und produzierte einen Dokumentarfilm, der morgen Samstag erstmals veröffentlicht wird. --dm
Alles von der Wucht zerfetzt…
50 Jahre danach: Explosion in der Sprengstoff-Fabrik in Dottikon jährt sich am Montag, 8. April
Dieses Unglück hat ganz tiefe Spuren hinterlassen. Die Explosion in der «Pulveri» in Dottikon vom 8. April 1969 rückt in diesen Tagen wieder ins Bewusstsein. Eine Zahl ist niederschmetternd; Mindestens 50 Kinder haben bei der Katastrophe ihren Vater verloren.
Daniel Marti
«Am Dienstag, 7.17 Uhr…» So lautet die Schlagzeile auf der Titelseite des «Wohler Anzeigers», Ausgabe Dienstag, 8. April 1969. Am frühen Morgen dieses besagten Dienstags ereignete sich der schreckliche Unfall in der Sprengstoff-Fabrik in Dottikon, im Volksmund nur «Pulveri» genannt. Am gleichen Nachmittag berichtet die Lokalzeitung erstmals über das Ereignis. Der «WA» wurde damals eben noch am Morgen gedruckt und am Nachmittag verteilt.
Alle Opfer wohnten in der Region
«Fürchterliche Katastrophe in Dottikon. Grösste Mengen Sprengstoff explodierten. Die Glocken läuteten Sturm. Der Schaden beträgt mehrere Millionen Franken.» Das waren die ersten Fakten, die bekannt und an die Leserschaft weitergegeben wurden. Die fürchterliche Explosionskatastrophe sei über 30 Kilometer hinweg wahrgenommen worden, berichtete diese Zeitung in den ersten Stunden. «Grosse Teile der Fabrikgebäude wurden von der Wucht der Explosion zerfetzt. Zahlreiche Ärzte be- finden sich an der Stätte, die ein Bild des Grauens bietet.»
Zur Zeit des Redaktionsschlusses – wohl so zwei, drei Stunden nach der verheerenden Explosion – wurde noch darüber spekuliert, ob auch unter der Zivilbevölkerung Opfer zu beklagen seien.
Am Dienstagmorgen, 8. April 1969, ging man von neun Toten und über 40 Verletzten aus. Zwei Tage später stieg die Zahl der Todesopfer auf 17. Sie wurden als «Opfer der Arbeit» bezeichnet. Die Opfer stammten aus Dottikon (6), Fahrwangen (2), Villmergen (2), Muri, Fischbach-Göslikon, Boswil, Wohlen, Niederwil, Othmarsingen, Buchs. Vier Personen stammten von auswärtigen Unternehmungen. Fünf Wochen nach dem Explosionsunglück stieg die Zahl der Todesopfer auf 18. Ein Mann lag fünf Wochen, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen, im Spital Muri – ehe er den schweren Kopfverletzungen erlag.
Acht Frauen verloren bei der Explosion in der Sprengstoff-Fabrik ihren Gatten – mindestens 50 Kinder ihren Vater. Es gab Familienväter unter den Toten, die sieben und acht Kinder hinterlassen haben.
Papst, Bischof, Bundesrat, Landammann trauerten mit
Die Trauer war riesig. Sogar ein Beileid des Papstes, Paul VI, traf in der Schweiz und in Dottikon ein. Ebenfalls der Bundesrat trauerte mit. Er habe mit «grosser Bestürzung von der Explosionskatastrophe in Dottikon Kenntnis genommen», liess Bundesbern verlauten. Der Bundesrat richtete den «schwer betroffenen Familienangehörigen der Opfer sein aufrichtiges Mitempfinden aus».
Am Dienstag, 15. April 1969, 20 Uhr, fand in Villmergen ein Trauergottesdienst statt. «Keiner weiss, warum gerade er verschont wurde», sagte damals der Verwaltungsratspräsident des Unternehmens. Regierungsrat und Landammann Arthur Schmid: «Das Unglück hat in unseren Seelen grössere Spuren als in der Landschaft hinterlassen.» Und Bischof Anton Hänggi betonte, dass «in grosser Trauer der Mensch schweigt». Und er erteilte den Ratschlag, das Mönchswort «Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen» umzukehren: «Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen.»
Das Unglück rund um die Sprengstoff-Fabrik Dottikon (SSF Dottikon AG) wurde auch zum Medienereignis. «Explosion von ausserordentlicher Wucht», meldete die «NZZ». «Wie bei einer Atombombe», titelten die «Freiburger Nachrichten». Zudem steckte der Boulevard noch in den Anfängen und lotete im Fall Dottikon die Grenzen aus. Und überschritt diese kräftig mit Bildern, die heute ganz bestimmt nicht mehr veröffentlicht würden.
Es war wohl ein menschliches Versagen
Auch das Unternehmen, die Sprengstoff-Fabrik in Dottikon, wurde durch die Explosion schwer geprüft. Die Firma wurde im Jahr 1913 gegründet von einem Zürcher Oberst Aebi zwecks Produktion von Sprengstoffen für Militär und zivile Nutzer. Am Tag der Explosion waren rund 420 Mitarbeiter beschäftigt Es entstanden Schäden an 1300 Gebäuden mit Auswirkungen bis ins neun Kilometer entfernte Auenstein. Am 8. April 1969 entstanden in der Region rund um Dottikon Gebäudeschäden in der Höhe von 8,5 Millionen Franken. Dies war damals das grösste Ereignis seit dem Existieren der Aargauer Gebäudeversicherung. Als Vergleich: im Jahr 1967 gab es Schäden im ganzen Kanton in der Höhe von 3,9 Millionen Franken.
Im Jahr 1987 wurde die Firma von der EMS-Chemie (seit 1984 im Besitz der Familie Blocher) übernommen. Im Jahr 1990 erfolgte die Umbenennung in EMS-Dottikon. Seit 2005 existiert die Firma unter dem Namen Dottikon Exclusive Synthesis AG unter der Leitung von Markus Blocher, herausgelöst aus der EMS-Holding. Heute sind rund 600 Mitarbeitende beschäftigt.
Der Grund des schweren Unglücks wurde nie restlos geklärt. Vermutet wird eine Fehlmanipulation, also menschliches Versagen, mit flüssigem Trotyl – dies ist ein Sprengstoff für militärische Zwecke und eine eigene Entwicklung des Unternehmens.
Zwischen 1927 und 1969 insgesamt vier Explosionen
Der Vorfall am 8. April 1969 war bereits der vierte und mit Abstand schlimmste Explosionsunfall in der SSF Dottikon. Bei einem Explosionsunfall 1927 gab es einen Toten. In den Dreissigerjahren starb ein Mensch. Und 1956 forderte eine weitere Explosion zwei Menschenleben. «Pulveri», der Übername für die Sprengstoff-Fabrik, hat also darin seinen Ursprung. Insgesamt 22 Menschen fanden auf dem Firmengelände bei vier Explosionen den Tod.