Eintauchen in visuelle Erinnerungen
29.03.2019 BremgartenDas Stadtmuseum ermöglicht einen Rückblick auf eine noch gar nicht so lang vergangene Zeit
Die nächste Themenausstellung wird einem Menschen gelten, der einen interessanten Lebenslauf hatte, überraschende, im Nachhinein gesehen gute ...
Das Stadtmuseum ermöglicht einen Rückblick auf eine noch gar nicht so lang vergangene Zeit
Die nächste Themenausstellung wird einem Menschen gelten, der einen interessanten Lebenslauf hatte, überraschende, im Nachhinein gesehen gute Entscheidungen traf und seine Meinung vertrat. Willi Wettstein, der aufmerksame Fotochronist und Freund der Stadt.
Hans Rechsteiner
Das war längst überfällig: eine Retrospektive über den «Fotografen Bremgartens». Willi Wettstein, geboren am 4. März 1902, war Fotograf mit Leib und Seele. Schon während seines Studiums in Einsiedeln war er der omnipräsente Starfotograf. Alles hat er abgelichtet: Professoren, Mitschüler, Kirchen, Landschaften – dannzumal in alter Technik, alles auf Glasplatten, welche er selber entwickelte und verarbeitete. Und als ihm die damalige Technik nicht genügte und er ein breiteres Aufnahmeformat suchte, baute er sich halt selber eine Holzkamera, die heute noch funktioniert. Es war die erste Panoramakamera weltweit. 1929 hat er vom Turm der Stadtkirche aus das erste Panorama von Bremgarten fotografiert.
Er absolvierte in Einsiedeln die Matura und studierte anschliessend Theologie in Luzern. Nur kurz vor der Primiz entschloss er sich, gegen Widerstand, aber auch der Liebe wegen, doch Fotograf zu werden. Bei Meister Schafgans in Bonn erlernte er das Porträtieren. In der Rekrutenschule verlor er wegen einem Ast ein Auge, nicht ideal für einen Fotografen. 1929 heiratete er seine Maria von Moos aus Sachseln. Im selben Jahr richtete das Paar am Bogen 10 in Bremgarten – im «Wettsteinhaus» – sein Fotogeschäft ein. Seine Frau führte den Laden. Er interessierte sich eher fürs Fotografieren als für die Ökonomie, er war fürs Handwerkliche da: Fotografieren, Einrahmungen und Buchbinden.
Willi und Maria Wettstein waren die Pflegeeltern von Alois Stutz. Er hütet deren riesiges Archiv und pflegt das Lebenswerk weiter. «Willi würde sich sehr freuen» sagte Alois Stutz in seinem Vortrag anschliessend an die GV des Vereins Stadtmuseum. Einer Hundertschaft aufmerksamer Zuhörer brachte er die Inhalte der künftigen Zweijahresausstellung im Stadtmuseum sympathisch näher. Willi Wettstein habe sich nämlich stets Sorgen um die Zukunft seines Fotoarchivs gemacht, das indes teilweise chaotische Züge aufweist. Also hätte er sicher grosse Freude an der Ausstellung zu seinem Lebenswerk.
Diese Ausstellung, die Mitte Mai Vernissage feiern wird, ist aufwendig vorbereitet. Alois und Rita Stutz haben mit Tochter Franziska und Sohn André den grössten Teil des Archivs gerettet, das heisst eingescannt und in digitale Form gebracht. Die Familie Stutz engagiert sich finanziell. Das Team Stadtmuseum und der Ausstellungsgrafiker Peter Spalinger haben mit Alois Stutz die Bilder ausgewählt. Es kann nur ein Bruchteil gezeigt werden, 600 bis 800 Exponate, technisch gut aufgearbeitet. Wo der Zahn der Zeit an den Negativen nagte, entstand manche Lücke.
Der qualitative Erhalt des fotografischen Nachlasses von Willi Wettstein stellt zukünftig die grösste Herausforderung dar. Das bei Alois Stutz in der Unterstadt lagernde Fotoarchiv und die selbst gebauten Kameras sind schon viermal mit aller Vorsicht gezügelt worden, haben Überschwemmungen und anderes überlebt. Dennoch: Man sollte die alten Aufnahmen von den Glasplatten, deren Trägerfolien sich langsam ablösen, und von Negativfilmen, die sich unreparierbar einrollen, hochauflöslich einscannen und digital der Nachwelt erhalten, bevor es zu spät ist. Eine unglaubliche Aufgabe.
«Nichts war vor seiner Kamera sicher»
Kurzweilig schilderte Alois Stutz Leben und Werk seines Pflegevaters im zeitlichen Ablauf, schwarz-weiss natürlich. Es war eine Reihenfolge der schönsten Ereignisse aus dem Leben in Bremgarten über mindestens 50 Jahre: die Operetten, die Vereine, die Feste, Klassenaufnahmen, Theater, Kadettenausmärsche, die alte Badi, die Jugend, Kirchenfeste, die Märkte, Häuser und ihre Veränderungen, die Polenflüchtlinge, später die Italienerinnen aus der Kleiderfabrik Meier, Brände, die Pferderennen auf der Fohlenweid, der Verkehr in der Marktgasse und am Bogen – vor Wettsteins Auge war nichts sicher. Sogar als Fliegerbeobachter machte er während des Krieges von seinem Posten auf dem Spittelturm seine Aufnahmen. Und als General Henri Guisan am 23. November 1940 für eine halbe Stunde Blitzbesuch auf dem Exerzierplatz Casino auftauchte, da war Willi Wettstein ebenso blitzschnell zur Stelle und hatte seine Sternstunde.
Äusserte sich pointiert
Willi Wettstein hielt sich gegenüber der Behörde und anderen Entwicklungen nie zurück. Weil die damalige Weihnachtsbeleuchtung jeweils am oberen Bogen endete, baute er bis hinunter zum Adler an seiner Gasse einfach eine eigene, und die wurde mehr bewundert als die offizielle. Der Stadtrat konnte reklamieren, solange er wollte. Willi Wettstein geizte auch nie mit pointierten Kommentaren. Auf die Rückseite seiner Fotografien zu einer Innenrenovation der Stadtkirche etwa schrieb er von Hand: «Schad fürs Gäld, fürchterlich». So nebenbei schrieb er ab 1930 14 Tagebücher, sie sind alle noch da. Jetzt konnte Alois Stutz nur 60 Bilder zeigen. Die Zuschauer waren fasziniert.
Verdient mehr Beachtung
Vorgängig zum Vortrag von Alois Stutz fand die GV des Vereins Stadtmuseum statt. Dieser pflegt und gestaltet am Kornhausplatz in der Unterstadt ein leider etwas verschämt verstecktes, indes feines Kleinod, wie es Präsident Fridolin Kurmann bezeichnet, das viel mehr Beachtung verdiene. Der von den Historikern der Stadt und anderen Interessierten geführte Verein zählt nur 84 Mitglieder. Eine Gruppe auskunftsfreudiger und kompetenter Freiwilliger hält über 44 Wochenenden in einem Hütedienst das Museum offen – gegen den Wert eines gemeinsamen Nachtessens jährlich. Es hat dennoch im Jahr 2018 die magische Grenze von 500 Besuchern nur um 17 überschritten.
Dankbar für jede Unterstützung
Fridolin Kurmann dankte allen für jegliche materielle und ideelle Unterstützung. Die Stadtgemeinde gibt 4000 Franken jährlich. Die Ortsbürgergemeinde erlässt dem Verein den Mietzins, was im Gegenwert 18 276 Franken pro Jahr ausmacht. Die Mitgliederbeiträge: Einzelmitglieder 30, Familien 40, Firmen mindestens 50 Franken.
Die Wechselausstellung – alle zwei Jahre wird das Thema gewechselt – war im zweiten Jahr. Es wurden doch eine gute Anzahl Gruppen durch die Ausstellung über die drei Themen «50 Jahre Kellertheater, 40 Jahre Operettenbühne, 20 Jahre Stadtmuseum» geführt.
Heinz Koch stellte das Programm für 2019 vor. Höhepunkt ist ab Mitte Mai wieder die auf zwei Jahre ausgelegte Themenausstellung über Willi Wettstein. Am 19. Mai ist Museumstag: Bruggmühle, St. Anna-Kapelle, Stadtmuseum sind die Hotspots.
Fridolin Kurmann äusserte erneut den alten Wunsch. Ein Wegweiserkonzept sei zu schaffen, nicht nur für die Museen, sondern auch an die musealen und geschichtlich wertvollen Punkte in der Altstadt. Er hatte den Vorschlag schon vor 15 Jahren eingebracht. «Allerdings musste ich feststellen, dass gewisse Dinge in Bremgarten halt nicht möglich sind, leider», sagte er schulterzuckend. --hr