«Leben in einer schönen Welt»
04.01.2019 WohlenGespräche mit Persönlichkeiten zum Jahresauftakt – zum Beispiel mit Josef Sachs, Wohlen
Sie hatten 2018 in ihrem Amt eine Nuss zu knacken oder stellen sich im kommenden Jahr einer anspruchsvollen Aufgabe. Die Redaktion hat sich mit neun ...
Gespräche mit Persönlichkeiten zum Jahresauftakt – zum Beispiel mit Josef Sachs, Wohlen
Sie hatten 2018 in ihrem Amt eine Nuss zu knacken oder stellen sich im kommenden Jahr einer anspruchsvollen Aufgabe. Die Redaktion hat sich mit neun Persönlichkeiten für ein Gespräch bei einem Kaffee oder Mineral getroffen.
Chregi Hansen
Obwohl er in seiner Arbeit immer wieder mit menschlichen Abgründen konfrontiert wird, hat Josef Sachs das Lachen noch nicht verlernt. «Es ist in meinem Beruf wichtig, abschalten zu können», sagt er.
Der Wohler Psychiater mit eigener Praxis in Brugg wird in vielen Fällen als Gutachter beigezogen – so etwa auch letztes Jahr im Fall Rupperswil. Im Dezember 2015 hatte ein junger Mann vier Personen in einem Einfamilienhaus umgebracht. Vor wenigen Wochen fand die Berufungsverhandlung vor dem Obergericht statt. Für die Mehrheit der Schweizer handelt es sich beim Täter um ein Monster, das man lebenslang wegsperren muss. Sachs hingegen hat viele Stunden mit ihm verbracht, viele Gespräche geführt. Doch was fasziniert ihn an solchen Menschen? «Das habe ich mich auch schon gefragt», lacht er. Aber eben: Gewalt und Verbrechen würden viele Menschen faszinieren, das sehe man auch an den Verkaufszahlen von Krimis und Thrillern. «Der Schrecken zieht viele Menschen an», weiss der Psychiater.
Seltene Ereignisse
Ihn persönlich interessiert es zudem, wie Menschen abseits der Normen leben und funktionieren. Dass er aber zum Gutachter geworden ist, hat auch viel mit Zufall zu tun. Seine Arbeit liebt er noch immer, auch wenn er regelmässig mit schrecklichen Taten konfrontiert wird. Und obwohl er jeweils Kenntnis hat von dessen Verbrechen, ist es ihm ein Anliegen, dem Täter vorurteilsfrei zu begegnen. «Natürlich gehe ich nicht ganz frei von Vorstellungen in die erste Begegnung, habe mir aufgrund der Akten ein Bild gemacht von ihm. Aber ich habe die Bereitschaft, dieses Bild zu korrigieren, wenn es sich als falsch erweist», erklärt er.
Im übrigen ist er überzeugt: Fälle wie derjenige in Rupperwil werden auch in Zukunft seltene Ereignisse bleiben. Und darum sollten solche Fälle seiner Meinung nach nicht zu sehr die Gesetze beeinflussen. «Diese Tendenz sehe ich leider», sagt Sachs. Dabei sollte sich die Politik doch nach dem Ganzen ausrichten. «Im Grunde genommen leben wir doch noch immer in einer schönen, faszinierenden Welt», ist er überzeugt. Und wieder ist es da, sein Lachen.
«Gewalt gehört zum Menschen»
«Auf ein Mineral mit…»: Josef Sachs, Psychiater und Gerichtsgutachter
Er war Gutachter im berühmten Fall Rupperswil. Seine Einschätzung war mitverantwortlich, dass der Täter nicht lebenslänglich verwahrt wird. Das hat Josef Sachs viel Kritik eingebracht. «Damit kann ich umgehen», sagt er.
Chregi Hansen
Weihnachten ist ein Fest der Liebe. Im Aargau musste die Polizei aber 22-mal wegen häuslicher Gewalt ausrücken. Was läuft da schief?
Josef Sachs: Das ist nicht verwunderlich. In einigen Familien ist das traute Heim ein hoch explosibler Konfliktherd. Am Fest der Liebe fühlen sie sich bemüssigt, viel Zeit in einer Art Zwangsgemeinschaft zu verbringen. Dazu kommt oft die enthemmende Wirkung übermässigen Alkoholkonsums. Eine falsche Geste oder ein falsches Wort kann schnell zu einem handfesten Streit eskalieren.
Trägt denn jeder Mensch etwas Gewalttätiges in sich?
Gewalt gehört zum Menschen, diese Tatsache lässt sich nicht wegdiskutieren. In der Entwicklung der Menschheit hat sich fast immer der Stärkere durchgesetzt. Heute haben wir zwar andere Möglichkeiten, Konflikte zu lösen. Aber gerade innerhalb einer Familie funktionieren diese nicht immer. Denn je mehr man jemanden liebt, desto mehr kann man in einem Konflikt hassen. Je enger eine Beziehung ist, desto mehr schmerzt eine Enttäuschung. Dieser Schmerz kann in Gewaltbereitschaft ausarten.
Warum gibt es dann auch viele Gewalttaten, die sich gegen völlig Unbekannte richten?
Solche Taten gibt es tatsächlich, aber sie sind eine Minderheit. Die meisten Gewalttaten passieren nach wie vor in Beziehungen oder in Familien. Und selbst ein Amokläufer mordet meist an Orten, zu denen er eine Beziehung hat. Zum Beispiel in seiner Schule.
Man hat das Gefühl, dass es heute mehr Gewalttaten gibt.
Wir haben nicht mehr Gewalt, vermutlich sogar eher weniger. Aber wir tolerieren sie weniger. Die Grenze des Akzeptablen hat sich verschoben. Wenn Kinder heute raufen, wird viel früher eingeschritten. Damit fehlt zum Teil die Erfahrung, ab wann es wehtut, wo die Grenze liegt. Heutige Gewalttaten sind im Gegensatz zu früher oft schrankenlos. Die Täter lassen sich dabei eher vom Internet inspirieren und weniger von realen Gegebenheiten aus dem Umfeld.
Also haben Videospiele doch einen schlechten Einfluss auf Jugendliche.
Natürlich haben solche Games einen Einfluss. Trotzdem kann man nicht sagen, dass sie in jedem Fall die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen fördern. Sie tun das nur bei dem kleinen Teil, bei welchem schon eine gewisse Gewaltbereitschaft vorhanden ist. Die Spiele wirken in diesen Fällen wie ein Brandbeschleuniger. Das ist ähnlich wie beim Alkohol. Fast alle Gewalttäter trinken. Aber nicht jeder, der Alkohol trinkt, wird zum Gewalttäter.
Aber gibt es Menschen, die per se böse sind?
Das müssten Sie einen Theologen fragen. Gut und böse sind keine Begriffe, mit denen ich arbeite. Ich würde sagen: Es gibt durchaus Menschen, die gewissenlos handeln, sich nicht an Regeln halten und sich nicht in andere einfühlen können. Diese bezeichnet man in der forensischen Psychiatrie aber nicht als böse, sondern als psychopathisch.
Sie haben in Ihrer Arbeit als Gutachter immer wieder mit solchen Menschen zu tun. Wie begegnen Sie diesen?
Wenn man sich mit einem solchen Menschen konkret beschäftigt, dann erkennt man schnell ganz andere Facetten als diejenigen, die man allgemein erwartet. Man merkt, dass sie eben nicht einfach böse sind, wie die Gesellschaft es ausdrückt. Genau das ist der interessante Aspekt meiner Arbeit. Der Täter verliert einen Teil seines Schreckens, wenn man ihn besser kennenlernt. Natürlich gibt es auch diejenigen, die absolut uneinsichtig, kriminell, abweisend und gewaltbereit sind, aber das sind die Ausnahmen. Viele haben auch ganz andere Seiten. Teilweise durchaus positive.
Die Öffentlichkeit hat sich aber bereits ein Bild des Täters gemacht, sie will eine möglichst harte Strafe. Wie gehen Sie mit diesem Druck um?
Solange es klar ist, woher der Druck kommt, ist das kein Problem für mich. Nehmen wir den Fall Rupperswil. Da war der Druck gross, dem Täter eine schlechte Prognose zu stellen. Wenn ich aber dann zu einer anderen Ansicht komme, zwingt mich der öffentliche Druck, meine Meinung ganz besonders gut zu begründen. Damit kann ich umgehen. Viel schwieriger ist es, wenn irgendwelche diffuse Erwartungen vorhanden sind, die gar nicht klar formuliert sind.
Spüren Sie den steigenden Druck in diesen Debatten?
Ja, das hat eindeutig zugenommen. Wobei der Druck leider aufgrund von falschen Vorstellungen entsteht. Viele meinen, wir Psychiater entscheiden, ob ein Täter wieder entlassen wird oder nicht. Aber das ist nicht der Fall. Wir geben nur eine Einschätzung ab bezüglich der Behandelbarkeit und des Rückfallrisikos. Das Problem ist aber, dass ich als Gutachter Vorwürfe nicht entkräften kann, weil ich mich nicht zu laufenden Verfahren äussern darf.
Wurden Sie auch schon persönlich angegangen?
Gerade im Fall Rupperswil war dies stark der Fall. Dabei muss man aber unterscheiden. Es gibt Menschen, die unzufrieden sind und nachfragen, wie ich zu meiner Prognose komme. Menschen also, die mehr wissen, die verstehen wollen. Aber es gab und gibt auch Beschimpfungen und Bedrohungen. Meist kommen die per Mail, da ist die Hemmschwelle offenbar sehr niedrig.
In einem solchen Fall wie jenem von Rupperswil können Sie als Gutachter ja nur verlieren, die Öffentlichkeit hat eine klare Vorstellung, was das richtige Urteil ist. Könnten Sie einen solchen Auftrag nicht einfach ablehnen?
Heute schon, da ich nur noch privat praktiziere und nicht mehr Chefarzt bin. Aber aus beruflicher Sicht war dies einer der interessantesten Fälle, die ich je hatte. Natürlich war mir bewusst, dass der öffentliche Druck gross sein wird. Allerdings gibt es zwei unabhängige Gutachten, die sich nur in Nuancen unterscheiden. Das ist auch eine gewisse Bestätigung für meine Arbeit.
Im Zentrum stand die Diskussion über eine allfällige lebenslange Verwahrung. Können Sie sich überhaupt einen Fall vorstellen, in dem diese zur Anwendung kommt?
Ich denke, dass viele eine ganz falsche Vorstellung haben. Eine lebenslange Verwahrung sieht das Gesetz dann vor, wenn man bei einem besonders brutalen Gewaltstraftäter davon ausgehen muss, dass er bis zu seinem Tod gefährlich bleibt und rückfallgefährdet ist. So viele Jahrzehnte in die Zukunft kann man einfach nicht blicken, es gibt dafür keine wissenschaftliche Methode. Die Situation muss darum im Verlauf der Jahre nochmals analysiert werden. Wenn der Täter beispielsweise schon über 50 wäre und schon mehrere Gewalttaten verübt hätte, könnte die Einschätzung anders sein. Wenn man einen Gewaltstraftäter ausschliesslich wegen der Brutalität der Tat lebenslang einsperren wollte, müsste man eine lebenslängliche Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung anordnen können. Die Verwahrung ist das falsche Instrument.
Aber gerade für solche Taten wie im Fall Rupperswil haben die Schweizer doch Ja gesagt zur Verwahrungsinitiative.
Das ist tatsächlich so. Ein Grossteil der Bevölkerung ist offenbar der Meinung, dass allein die Schwere der Tat ausschlaggebend ist für das Aussprechen einer lebenslangen Verwahrung. Dies entspricht aber nicht der Gesetzgebung. Da sind also falsche Vorstellungen vorhanden.
Wenn man so viel mit Verbrechern zu tun hat und mit deren schlimmen Taten konfrontiert ist: Wie bringt man all diese Bilder wieder aus dem Kopf?
Es braucht eine professionelle Herangehensweise, Unterstützung durch Supervision und andere Methoden. Dazu kommt, dass ich sehr analytisch an solche Fälle herangehe, sie in erster Linie intellektuell betrachte. Aber natürlich brauche ich einen Ausgleich. Es ist mir wichtig, dass ich nicht am gleichen Ort lebe und arbeite, dass ich hier im Freiamt abschalten kann, zum Beispiel im Wald oder beim Joggen.
Interessiert Sie ein Fall noch, wenn Sie ein Gutachten abgegeben haben?
In vielen Fällen liegt mir sehr viel daran, etwas über den weiteren Verlauf zu erfahren. In diesen möchte ich auch das Urteil wissen; oder ich erkundige mich später bei den Vollzugsbehörden, wie es läuft. Und manchmal melden sich die begutachteten Personen sogar von sich aus nochmals bei mir.
Im Fall Rupperswil wurden Sie von einem Gutachterkollegen kritisiert. Wie kam das bei Ihnen an?
Natürlich tauschen wir Gutachter uns aus. Aber so wie es in diesem Fall passiert ist, geht es nicht, das hat mich wirklich geärgert. Zum einen wegen des Zeitpunkts. Entweder meldet man sich lange vorher oder erst nachher. Aber so punktgenau vor dem Prozess, das geht einfach nicht. Da steckte vermutlich die Absicht dahinter, die Entscheidung des Gerichts zu beeinflussen. Was mich wirklich stört: Die Kritik ging sehr ins Detail, ohne dass der Kritiker die nötigen Unterlagen und Fallkenntnis hatte. Er kannte die Details nur aus der Presse, und da war eben nicht alles korrekt dargestellt worden.