Das sind sich die Pflegefachleute nicht gewohnt. Normalerweise sorgen sie dafür, dass Patienten wieder gesund werden oder sie helfen, dass sie möglichst keine Schmerzen haben. Aber was passiert, wenn eine Bewohnerin den Wunsch hat, mit Exit aus dem Leben zu treten? Darüber wurde in der Pflegi ...
Das sind sich die Pflegefachleute nicht gewohnt. Normalerweise sorgen sie dafür, dass Patienten wieder gesund werden oder sie helfen, dass sie möglichst keine Schmerzen haben. Aber was passiert, wenn eine Bewohnerin den Wunsch hat, mit Exit aus dem Leben zu treten? Darüber wurde in der Pflegi in Muri vor viel Publikum diskutiert. Dabei wurde die Seite der Seelsorge genauso beleuchtet wie jene der Pflegi. --ake
Ihr Zeitplan war nicht perfekt
Ob Sterbehilfe und Palliative Care widersprüchlich sind, wurde in der Pflegi Muri thematisiert
Aus der Sicht der Pflegenden, des persönlichen Umfelds, der Sterbehilfeorganisation und des Seelsorgers. Von allen Seiten wurde in der Pflegi der Tod von Christiane H. beleuchtet. Sie war Bewohnerin der Pflegi und schied mit Exit aus dem Leben. Ein Thema, das viele Menschen interessierte.
Annemarie Keusch
Stühle hat es nicht genug im Dachsaal der Pflegi. Wer zuletzt kommt, muss auf den Bänkli Platz nehmen, die zuhinterst oder am Rand des Raumes stehen. Aber auch von dort ist eindrücklich mitzubekommen, wie das Thema Sterbehilfe bewegt – allen voran die Angehörigen. Denise Greutmanns Stimme versagte mehrmals, als sie vom schwierigen Leben ihrer Schwester Christiane H. erzählte. Am 5. Januar dieses Jahres verstarb sie, mit der Begleitung der Sterbehilfeorganisation Exit.
Etwas, das in der Pflegi Muri seit gut vier Jahren möglich ist. Drei Fälle gab es seither. «Wir haben uns Selbstbestimmung auf die Fahne geschrieben und ziehen diese konsequent durch», betonte Direktor Thomas Wernli. Er finde es wichtig, dass über den Prozess der Sterbehilfe diskutiert wird. «Klar, dieses kontroverse Thema muss sorgfältig angegangen werden. Aber die Pflegi Muri will die Sterbehilfe nicht verstecken», betonte er.
Liess sich nicht vom Entscheid abbringen
Verstecken wollen die Angehörigen der mit Exit aus dem Leben geschiedenen Christiane H. den Prozess auch nicht. Auch wenn er für sie noch so schwierig war. Schwester Denise Greutmann erzählte, dass sie den Entschied nicht habe nachvollziehen können, als ihre Schwester sie damit konfrontierte. Dabei wusste sie vom Leidensweg, der schon mit der Geburt begann. Hüftluxation, nie richtig laufen können, eine Hirnhautentzündung, die zu ewigem Stottern führte, der frühe Tod des Vaters, die rund 60 Operationen, die Alkoholsucht, die verschiedenen Entzüge, die Lungenkrankheit COPD, der frühe Tod des Sohnes. «Vor allem Letzteres hat sie nie verkraftet», weiss die Schwester.
Es sei schwierig gewesen, ihren Entscheid zu akzeptieren. «Sie hat sich aber nicht davon abbringen lassen. Also mussten auch wir uns damit abfinden», erläuterte sie. Einfach sei es auch für das Pflegepersonal nicht gewesen. Sie pflegen normalerweise die Palliative Care, also Pflege, die das Leben bejaht und das Sterben als normalen Prozess betrachtet und diesen weder beschleunigt noch verzögert. Ein internes Care-Team hilft. «Und die Gespräche mit der Bewohnerin. Ihr Wille zu gehen war unbrechbar. Also lernten auch wir, diesen zu akzeptieren», ergänzte Pflegefachfrau Irène Syla.
Nie an ihrem Entscheid gezweifelt
In die Zwickmühle geriet vor allem Seelsorger Andreas Zimmermann. Seit Christiane H. 2016 in die Pflegi kam, verstanden sie sich bestens. Regelmässig besuchte Zimmermann die Pflegi-Bewohnerin und sprach mit ihr auch über den Wunsch, Sterbehilfe zu beanspruchen und über Religion. «Ihre Überzeugung, mit dem Tod ihrem Sohn wieder zu begegnen, war riesig», erzählte Zimmermann. Trotzdem war er hin- und hergerissen. «Ich wusste aber, dass es meine Aufgabe ist, sie bis zum Schluss zu begleiten und für sie da zu sein», betonte der Seelsorger im Wissen darum, dass die katholische Kirche Sterbehilfe ablehnt.
Immer wieder fragte Sterbebegleiterin Brigitte Fischer am bestimmten Todestag, ob sie das auch wirklich wolle. «Sie war an diesem Tag sehr klar, antwortete immer umgehend mit Ja», erzählte sie. Sie habe nie gezweifelt, dass es nicht Christiane H.’s Wunsch war, zu sterben. Magenschoner einnehmen, noch eine Zigarette rauchen, einen Prosecco mit den Schwestern und dem Seelsorger trinken und dann den tödlichen Cocktail ansetzen. «15 Minuten später war alles vorbei», berichtete Schwester Denise Greutmann.
Kein Widerspruch
Ob Palliative Care und Exit ein Widerspruch seien – unter diesem Titel stand der Abend im Murianer Pflegidach, für den sich so viele interessierten. Seelsorger Andreas Zimmermann betonte, dass dem nicht so sei. «Es kann beides geben.» «Gottes Zeitplan ist perfekt», stand auf einer Folie eines Films, den ein befreundeter Bewohner der Pflegi für Christiane H. erstellt hatte. Für sie war dieser Zeitplan nicht perfekt.