Auf Streife im Freiamt
10.08.2018 WohlenReportage: Einen Abend mit der Regionalpolizei Wohlen unterwegs
Vier Stunden lang durfte diese Zeitung bei einer Patrouille der Repol Wohlen dabei sein. In der Sommerserie «Wenn es Nacht wird...» zeigen die Polizisten offen und ehrlich ihre ...
Reportage: Einen Abend mit der Regionalpolizei Wohlen unterwegs
Vier Stunden lang durfte diese Zeitung bei einer Patrouille der Repol Wohlen dabei sein. In der Sommerserie «Wenn es Nacht wird...» zeigen die Polizisten offen und ehrlich ihre Arbeit.
Stefan Sprenger
Eines fällt sofort auf: Die glotzenden Blicke der Menschen auf der Strasse, wenn das Polizeiauto langsam vorbeifährt. «Daran gewöhnt man sich», sagt Polizist Michael Häberli. Er ist an diesem Abend mit Kollege Dieter Steiniger im Dienst.
«Gnade vor Recht»
Am Bahnhof Wohlen sehen die beiden Regionalpolizisten einen Autofahrer, der in die Einbahnstrasse fährt. Nach wenigen Metern bemerkt dieser seinen Fehler und wendet. Der Automobilist erntet nun die Blicke der Polizisten für sein Delikt. Sie könnten ihm nun für sein Fehlverhalten eine Busse aussprechen. Tun sie aber nicht. «Er hat es ja sofort bemerkt. Hier lassen wir Gnade vor Recht walten», sagt Steiniger.
An diesem Montagabend in der Ferienzeit ist es ruhig. «Fast zu ruhig», sagen die Polizisten. Weil sie zu keinem Einsatz gerufen werden, haben sie Zeit für anderes. Für Dinge, die sonst vernachlässigt werden: Sie fahren die «Hotspots» der einzelnen Gemeinden ab, führen eine Verkehrskontrolle durch und gehen auf Fusspatrouille durch den Wohler Bahnhof. «Langweilig wird es uns nie», sagen die Polizisten. Und der Abend hält dann auch einige Überraschungen bereit.
Was für die Polizisten Alltag ist, ist für den Laien höchstspannend. Die Polizisten erzählen über ihren Alltag, ihre prägendsten Erlebnisse und von einem Einsatz – an dem sie gemeinsam waren –, den sie lieber aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätten.
«Ich spiele nicht Polizist»
«Wenn es Nacht wird...»: Einen Abend unterwegs mit der Regionalpolizei
Stefan Sprenger
«Mami, ich ha en Scheiss gmacht.» Der 17-jährige Lukas (Name geändert) muss bei seiner Mutter anrufen. Daneben steht Polizist Michael Häberli mit grimmigem Blick. Durchs Handy hört man die aufgebrachte Mutter ausrufen – auch ohne Lautsprecher. Der junge Mann wurde gerade dabei erwischt, wie er etwas Verbotenes machte, und muss es nun beichten. Doch der Jugendliche spricht mit der Mutter nicht Klartext. «Gib mir bitte das Handy», sagt der Polizist und nimmt Lukas das Telefon leicht genervt aus der Hand. Nun spricht er mit der Mutter. «Grüezi. Häberli, Regionalpolizei Wohlen. Wir haben Ihren Sohn hier. Haben Sie eine Vermutung, wieso?» Lukas steht daneben. Ihm ist es sichtlich unwohl.
Solche Szenen gehören zum Alltag eines jeden Polizisten. Lukas hat aber etwas getan, was die Ordnungshüter gar nicht leiden können. er hat gelogen. «Wenn mich jemand anlügt, dann werde ich ranzig», sagt Michael Häberli. Er ist 45 Jahre alt und seit 2014 bei der Repol in Wohlen. Auf den ersten Blick wirkt er auf mich einschüchternd. Breite Statur, kahlrasiert, grimmiger Blick. Häberli, der eine Freundin aus der Region hat, ist zudem Schusswaffen-Experte. Privat besitzt er mehrere Waffen.
«Pärkli-Brüder» und «Autoausstellung» am Bahnhof
Wenn ich mit ihm spreche, zeigt er sich sehr locker. Und dann bestätigt sich mein erster Eindruck ganz und gar nicht: Michael Häberli ist ein sympathischer Typ. Witzig, wortgewandt, aufgestellt. Und er ist Polizist aus Leidenschaft. Er lernte zuerst Maschinenmechaniker, war später im Sicherheitsdienst tätig und ist nun seit 2004 Polizist.
Unter der Woche sind jeweils zwei Polizisten der Repol Wohlen abends im Dienst. Um 19 Uhr beginnt unsere Tour. Nachdem ich die 10 kg schwere Schutzweste angezogen habe, die bei heissen Temperaturen für schwitzende Polizisten sorgt, geht es los. Mit dem Repol-Auto, einem grossen Volvo, fahren wir die «Hotspots» an. «Hotspots», das sind Schulhäuser, Bahnhöfe, Tiefgaragen. Start ist der Bahnhof in Wohlen. Dort ist meist eine «Autoausstellung», wie die Polizisten lächelnd sagen. An diesem Abend ist es aber ruhig um 19.30 Uhr. Auch im kleinen Bahnhof-Park ist niemand. «Keine Pärkli-Brüder da.» Was mir sofort auffällt, sind die Blicke der Menschen, wenn das Polizeiauto vorbeifährt. «Daran gewöhnt man sich.»
Häberli ist an diesem Abend im Dienst mit Dieter Steiniger. Dieser ist 52 Jahre alt. Der gelernte Schreiner wollte «immer einen Job mit einer Uniform», wie er mit breitem Lächeln sagt. Er arbeitete früher im Sicherheitsdienst eines Kernkraftwerkes. Seit 23 Jahren ist er Polizist. Auch vor ihm habe ich sofort Respekt. Breit gebaut, tätowiert, einen Henriquatre-Bart. Doch Steiniger gehört wie Häberli zu dem Typ Mensch, mit dem ich auch mal ein Bier zischen könnte.
Rund um den Vollmond mehr häusliche Gewalt
Auch, weil beide viele spannende Geschichten erzählen. Beispielsweise von einem Einsatz, der nur wenige Stunden zurückliegt. Häusliche Gewalt war der Grund. «Wie so oft», sagt Häberli. Mutter und Sohn hatten in Wohlen eine verbale Auseinandersetzung. Der Sohn rief die Polizei. Wie gehen die Polizisten dann vor, wenn sie vor Ort sind? «Wir hören beide Parteien getrennt voneinander an. Wir wollen wissen, was passiert ist. Wir versuchen zu schlichten. Dann wägen wir ab, wie wir weiter vorgehen.» Häusliche Gewalt – ein «Klassiker». Und oft der Grund, wieso die Polizisten anrücken müssen. «Rund um eine Vollmondnacht zieht es massiv an. Ich glaube, dann herrscht eine grössere Grundaggressivität bei den Menschen», sagt Häberli.
Die «Hotspot»-Tour in Wohlen geht für uns weiter. Schulhaus Bünzmatt, Badi, Niedermatten. Alles ruhig. Eine Person winkt den Polizisten zu. «Wer ist das?», fragt Häberli seinen Kollegen. «Keine Ahnung», antwortet dieser. «Man kennt sich», lacht Häberli. Ein Satz, den er an diesem Abend ein paarmal sagt.
«Die mögen uns überhaupt nicht»
Nächster Halt: Villmergen. Vorbei an der Schule, der Badi, dem Sportplatz. Nichts Ungewöhnliches, alles ruhig. Es geht weiter zu den Fahrenden nach Dottikon. Eine Sippschaft aus Frankreich. Die Blicke der Fahrenden sind mürrisch. «Die mögen uns überhaupt nicht.» An diesem Abend geben die Fahrenden den Polizisten keinen Grund auszusteigen. «Wenn wir sie aber mal belehren müssen, dann geht es keine Minute und wir werden von ihnen umringt und sofort folgen die Vorwürfe, wir seien Rassisten», sagt Steiniger. Das sind die Polizisten aber nicht. Während des ganzen Abends gibt es keinerlei Bemerkungen gegen Ausländer. «Wir behandeln alle Menschen gleich», sagen sie unisono. Ich glaube es ihnen.
«Wenige Stunden später warf sie sich vor den Zug»
Als ich sie frage, was ihre schlimmsten Einsätze gewesen sind, antworten beide: «Wenn Kinder im Spiel sind, ist es immer besonders tragisch.» Für Steiniger, der Vater einer Tochter ist, sowieso. Er erinnert sich an einen Suizid einer 14-Jährigen vor einigen Jahren. Er arbeitete damals noch bei der Stadtpolizei Zürich. Der Anblick des Tatorts sei «enorm heftig» gewesen. Als Steiniger von diesem Fall erzählt, klinkt sich Häberli ein. «Ich war auch da.» Er allerdings war damals bei der Bahnpolizei angestellt. Die beiden kannten sich noch nicht. «Tragisch, sehr tragisch», sagt er. Für den damaligen Stapo-Polizisten Steiniger ging die Sache weiter. «Ich musste die Todesnachricht den ahnungslosen Eltern überbringen. Sie sagten, sie hätten sich noch gestritten, weil die Tochter ihr Zimmer nicht aufgeräumt hatte. Wenige Stunden später warf sie sich vor einen Zug.» Es ist eine Erinnerung, die beide gerne aus ihrem Gedächtnis streichen würden.
Auf dieses tragische Erlebnis berichten die beiden Gesetzeshüter gleich anschliessend von etwas Erfreulicherem. Nämlich von einem verhinderten Suizid-Versuch. Eine 17-jährige Frau wollte sich in Wohlen vor den Zug werfen. «Wir konnten dies im letzten Moment verhindern.»
«Abschotten» im Privatleben
Suizidfälle gehören zum Alltag der beiden Regionalpolizisten. Besonders um die Weihnachtszeit häufen sie sich. Um damit umzugehen, müsse man sich privat «abschotten» und «abgrenzen». Sonst gehe man kaputt. Steiniger hat im Lauf seiner Karriere einige Kollegen erlebt, die das nicht konnten. Die Folge: «Burn-out.» Privates und Berufliches trennen, das ist etwas, was Steiniger und Häberli bewusst machen. Deshalb wohnen auch beide nicht in der Region. Steiniger wohnt in Wettingen, Häberli im Zürcher Oberland. «Am gleichen Ort arbeiten und leben, das ist als Polizist sehr schwierig.»
Wie reagieren sie, wenn sie beispielsweise an einem Fest sind, einer der Partygäste zu viel trinkt und noch ins Auto steigt? Steiniger antwortet: «Privatsache. Ich spiele nicht Polizist, wenn ich nicht im Dienst bin. Und dann achte ich mich nicht auf solche Dinge, ausser es ist unausweichlich.» Unausweichlich war es beispielsweise, als neben ihm auf einem Dorffest eine Schlägerei losging. Er griff ein. Wegschauen geht also nur bis zu einem gewissen Grad.
Die Patrouille geht weiter. Häberli öffnet eine Tüte Gummibärchen. «Etwas Zucker tut gut», sagt er. Als Nächstes folgt für uns eine Verkehrskontrolle in Dottikon. Ein weisser Lieferwagen wird gestoppt. Es läuft «Johnny Cash» aus den Boxen. «Grüezi, Steiniger, Regionalpolizei Wohlen. Führerschein, Fahrzeugschein bitte.» Häberli sichert ab auf der Beifahrerseite. Ich beobachte die Szenerie gespannt. Die beiden Insassen sind auf dem Weg in die Nachtschicht. Alles gut. Ein kleines Mädchen nähert sich den Polizisten gemeinsam mit der Mutter. «Grüezi. Meine Tochter möchte wissen, was sie hier machen», sagt die Mutter. Polizist Steiniger erklärt ihr fürsorglich die Arbeit der Polizisten.
Eine Frau mit Kopftuch läuft vorbei und grüsst freundlich. Ein Mann auf dem Töffli winkt uns zu. Eine Frau mit einem Hund grüsst: «Guten Abend.» Die Polizisten grüssen sympathisch zurück. «Hier in der Region werden wir von den Menschen geschätzt. Das ist in der Stadt anders», erzählt Steiniger. Bei der Stadtpolizei Zürich sei er auf Hass gestossen. Beleidigungen seien an der Tagesordnung gewesen. «Hier im Freiamt ist das anders. Der Job ist viel angenehmer, weil die Menschen angenehmer sind», sagt Steiniger und fügt an: «Die positiven Erlebnisse überwiegen.» Häberli steht daneben und sagt: «Ja, ausser letzte Woche. Da wollte in Wohlen ein alkoholisierter Mann mit einer zerschlagenen Flasche auf mich los.» Diese Fälle sind aber sehr selten. Ihre Schusswaffen haben beide noch nie einsetzen müssen.
Villmergen auf dem 2. Rang
Die 16 Polizisten der Repol Wohlen sind zuständig für die Gemeinden Büttikon, Dintikon, Dottikon, Hägglingen, Uezwil, Villmergen, Waltenschwil, Wohlen. In Wohlen läuft am meisten. Gefolgt von Villmergen und Dottikon, wie die Polizisten sagen. In den anderen Dörfern werden sie selten zu Einsätzen gerufen. Zuletzt seien sie oft gerufen worden, wenn rund um den 1. August jemand das Feuerverbot missachtete. Letzte Woche mussten sie eine Person reanimieren.
Häberli sagt, dass sie an den Waldrändern im Freiamt auch öfter Leute sehen, die «Sex im Freien» haben – oder im Auto. Je nachdem lässt man diese Menschen gewähren. Ihre Hauptaufgaben, wenn kein Einsatz ansteht: «Hotspots» anfahren, Präsenz markieren, Verkehrskontrollen durchführen, Fusspatrouille machen.
Und weil in der Ferienzeit nicht viel los ist, hat man an diesem Abend Zeit dafür. Zurück am Wohler Bahnhof. Es ist 22 Uhr. Es tummeln sich Leute rund um das Areal. Ein Mitarbeiter der Shisha-Lounge im Güterschuppen macht die Polizisten auf ein gestohlenes Töffli aufmerksam, das seit einer Woche hinter dem Schuppen steht. «Danke, wir kümmern uns darum.» Ansonsten ist alles ruhig. Kurz bevor wir wieder ins Auto steigen, sehen die Polizisten zwei Personen, die betrunken sind und laut Musik hören. Wir nähern uns, die jungen Männer sehen uns erst im letzten Moment – und dementsprechend erschrecken sie auch. Es sind zwei Asylbewerber. Beide Seiten begegnen einander freundlich. Die Ausweise werden kontrolliert. Die Asylbewerber werden gebeten, ihre Musik abzustellen. Nun geht es zurück auf den Posten.
Drogentest negativ: «Gibt es eine Anzeige?»
Im Polizeifunk wird eine Verfolgungsjagd gemeldet im West-Aargau. Und ein Patient der psychiatrischen Klinik in Königsfelden ist ausgebrochen. «Wir lieben unseren Job. Polizist zu sein, ist eine Berufung», sagen beide. Und auch wenn sie mit viel Spass dabei sind: Wenn sie zu einem Einsatz gerufen werden, herrscht Ungewissheit, was sie antreffen werden.
Bald ist Feierabend. Vorher aber muss noch der Abend rapportiert werden. Und der Fall mit dem jungen Lukas, der seine Mutter anrufen musste, weil er einen «Scheiss» gemacht hat, wird nochmals in Erinnerung gerufen. Lukas sass gemeinsam mit zwei Kumpels auf einer Bank beim Schulhaus in Dottikon. Der Verdacht auf den Konsum von Cannabis bestätigt sich im Rucksack von Lukas. Häberli findet Reste von Cannabis. Doch nicht mehr. Und auch der Drogentest ist negativ. Dafür hat Lukas eine Flasche «Havanna» dabei, die er zuvor verleumdete. Der 17-Jährige ist noch zu jung für harten Alkohol. «Gibt es eine Anzeige?», fragt dieser. Die Polizisten belassen es dabei, dass er die Flasche Schnaps wegkippen und die Mutter anrufen muss. Dies sei Strafe genug.