Wenn der Krieg näher rückt
30.12.2022 Sport, RingenBesondere Momente im Redaktionsalltag: Treffen mit Andrey Maltsev nach dem Beginn des Ukraine-Krieges
Josip Lasic
Das Treffen zwischen Andrey Maltsev und mir findet am Mittwoch, 2. März 2022, statt. Rund eine Woche vorher, am Donnerstag, 24. ...
Besondere Momente im Redaktionsalltag: Treffen mit Andrey Maltsev nach dem Beginn des Ukraine-Krieges
Josip Lasic
Das Treffen zwischen Andrey Maltsev und mir findet am Mittwoch, 2. März 2022, statt. Rund eine Woche vorher, am Donnerstag, 24. Februar, hat die russische Armee Maltsevs Heimat, die Ukraine, überfallen. Wir treffen uns im Ringerkeller der RS Freiamt. Beim Verein, wo Maltsev zunächst als Aktivringer und später als Greco - Trainer ein neues Zuhause gefunden hat. Man kennt und schätzt sich. Umso schwerer fällt es, den 48-Jährigen so zu sehen. Die Augen leicht gerötet, die Stimme leise. Mir fällt kein Ringerkampf ein, nach dem er so mitgenommen aussah wie in diesem Moment.
Er erzählt davon, dass er nicht besonders gut schläft. Dass er seine Familie in der Ukraine darum gebeten hat, ihm zweimal täglich eine SMS zu schicken, damit er weiss, dass sie noch am Leben sind. «Das Schlimmste für mich war, als ich meine Familie einen Tag lang nicht erreichen konnte. Ausgerechnet, als Bomben bei ihnen in der Nähe eingeschlagen sind. Ich musste lange herumtelefonieren, bis ich irgendwann in Erfahrung bringen konnte, dass sie in Sicherheit sind.» Russlands Krieg in der Ukraine ist der erste in Europa seit den Jugoslawien-Kriegen in den 1990er-Jahren. Er fühlt sich beängstigend nah an. Und in dem Moment, als Maltsev von der Angst um seine Familie erzählt und Bilder von Kindern zeigt, die Sand in Säcke füllen, als Schutz vor Bombenangriffen, in diesem Moment rückt dieser Krieg noch viel näher heran.
Trotz allem ein Kämpfer
Der Ringer fühlt sich hilflos, aber der Kämpfer in ihm scheint trotzdem stärker zu sein. Er erzählt nicht nur von den unschönen Dingen, sondern berichtet auch davon, dass er gemeinsam mit seiner Familie an Demonstrationen gegen den Krieg war, und von den Menschen, die er dort getroffen hat. «Das sind ganz normale Menschen. An den Demonstrationen waren nicht nur Ukrainer, sondern auch Russen, Kasachen, Weissrussen, alle vereint gegen den Krieg. Russen wollen uns helfen und sammeln ebenfalls Spenden. Es ist nicht die Bevölkerung, die einen Krieg begonnen hat. Es sind böse Menschen in der Regierung.» In der Wohnung der Maltsevs in der Ukraine sind zu diesem Zeitpunkt Flüchtlinge untergekommen. «Das ist okay. Sie brauchen die Wohnung, wir nicht im Moment.» Er möchte auch bei sich in der Schweiz Flüchtlinge aufnehmen. Und gemeinsam mit der RS Freiamt werden Spenden für die Ukraine gesammelt. Überhaupt ist er um die Unterstützung des Vereins froh. «Mein Verein hat die Farben der ukrainischen Fahne. Das ist kein Zufall. Ich bin mein halbes Leben in diesem Verein. Es ist eine Familie. Dass sie jetzt hinter mir stehen, ist mehr wert als jede Hilfe», sagt er, während seine Augen wieder rötlicher werden. Parallel zu unserem Treffen bereiten sich mit Christian Zemp und Nino Leutert zwei Mitglieder der RS Freiamt auf die U23-Europameisterschaft in Bulgarien vor. Als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine und die Unterstützung der Russen durch Weissrussland sind die Athleten der beiden Länder von der U23-EM ausgeschlossen worden. Maltsevs Aussage dazu: «Ich weiss nicht, ob ich das kommentieren soll. Aber diese Strafen treffen Leute, die nichts für diesen Krieg können.» Der Sportler hat auch in dieser schweren Situation seine Fairness nicht verloren.
Grosser Einsatz für die Ukraine
Auch seinen Humor hat er behalten. Vor diesem Krieg war er kein besonders politischer Mensch. Seine Meinung zum Zerfall der Sowjetunion: «Für mich hat es gepasst. Es gab weniger sportliche Konkurrenz.» Als ich ihn um seine Mailadresse bitte, frage ich, ob diejenige, die auf die russische Top-Level-Domain «.ru» endet, noch aktuell sei. «Nein. Ich habe noch eine andere. ‹.ru› ist für mich ein bisschen schwierig im Moment.» Wir lachen, obwohl uns nicht danach ist. Galgenhumor, um die schwierige Situation zu verarbeiten.
Es soll nicht das letzte Treffen zwischen Maltsev und mir im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg bleiben. Er ermöglicht jungen ukrainischen Ringern, die vor dem Krieg in die Schweiz geflohen sind, mit der RS Freiamt zu trainieren. Gemeinsam mit Freunden gründet er den Verein «Switlo», um die Hilfe für die Ukraine zu koordinieren. Und um die RS Freiamt zu entlasten, die als Sportverein sehr grosses Engagement bei der Unterstützung des kriegsgebeutelten Landes geleistet hat. Wir sind sicher genauso Schweizer wie Ukrainer, aber wir vergessen nicht, wo unsere Wurzeln sind», hat Andrey Maltsev bei unserem Treffen im März gesagt. Und er leistet viel, um dem Land, wo seine Wurzeln sind, und den Menschen dort zu helfen. Auch wenn es oft an ihm zehrt. Kurz nach Kriegsbeginn war es ein bewegendes Gespräch mit einem grossen Sportler, der im vergangenen Jahr besonders als Mensch einen starken Eindruck hinterlassen hat.