Um viertes Opfer zu vermeiden
23.05.2025 Muri, GerichtBezirksgericht Muri: 14 Jahre Freiheitsstrafe und Verwahrung nach häuslicher Gewalt
Die Staatsanwaltschaft beantragt 16 Jahre Freiheitsstrafe, unbedingt. Plus Verwahrung. Der Verteidiger plädierte auf Freispruch. Wegen häuslicher Gewalt traf sich ein ...
Bezirksgericht Muri: 14 Jahre Freiheitsstrafe und Verwahrung nach häuslicher Gewalt
Die Staatsanwaltschaft beantragt 16 Jahre Freiheitsstrafe, unbedingt. Plus Verwahrung. Der Verteidiger plädierte auf Freispruch. Wegen häuslicher Gewalt traf sich ein einstiges Paar vor Bezirksgericht wieder. Unter anderem wegen versuchtem Mord und Vergewaltigung.
Annemarie Keusch
Einfach zu ertragen ist es nicht. Wenn die Geschädigte vor Gericht erzählt, wie ihr damaliger Freund ihr das Messer an den Hals setzte. Sie mit einer metallenen Gurtschnalle schlug. «Fünf bis sechs Mal.» Wie er sie an den Haaren den Boden entlang schleifte, sie mit der flachen Hand, mit der Faust schlug. Oder an einem anderen Abend, als er mit einem Kleiderständer auf sie einprügelte. Oder weitere zwei Monate später, als er sie würgte, bis sie bewusstlos wurde und Urinabgang hatte. Als er sie erniedrigte, auf das Kopfteil ihres Bettes urinierte, sie mit einem Messer in den Oberschenkel stach, sie vergewaltigte, sie und ihren kleinen Sohn mit dem Leben bedrohte, ihre Hand mit einem Stein unterlegte und mit einem anderen daraufschlug. «Ich habe beschlossen, dich zu töten.»
Knapp vier Jahre sind seit diesen Vorfällen vergangen. Es habe sie Überwindung gekostet, nochmals alles zu erzählen, sagt sie am Schluss ihrer Befragung. «Ich habe die letzten Nächte kaum geschlafen, die Angstzustände sind wieder da, wenn ich daran denke, dass er freikommen könnte.» Seit dreieinhalb Jahren befinde sie sich in einer Psychotherapie. «So habe ich es geschafft, Lebensfreude zurückzugewinnen. Die Traumabewältigung konnten wir aber noch nicht in Angriff nehmen.» Sie habe sich verändert, vom «Sonnenschein-Menschen» zu einer Frau, die allem und allen skeptisch gegenübersteht. «Und ja, ich habe nach wie vor Angst vor ihm.» Dennoch, sie spricht gefasst, erzählt Details, intime Details. Nur hie und da droht die Stimme zu brechen. Wenn es um ihren Sohn geht, der während mehrerer der angeklagten Nächte ebenfalls in der Wohnung war. Mit seinem Tod habe ihr damaliger Freund mehrmals gedroht. «Er wusste, dass er mich damit brechen kann.»
Schnell im Teufelskreis
Passiert ist es erstmals im April 2021. Kurze Zeit waren sie erst ein Paar. Gerichtspräsident Markus Koch wird später sagen, dass er über ihre Reaktion gestaunt habe. Er fragte, wie sie sich kennenlernten. Die Frau strahlte. Im Laden, wo sie damals arbeitete, sei er Kunde gewesen. «Er fiel mir sofort auf, weil er so gut aussah.» Er habe ihr das Gefühl gegeben, anzukommen. Ein Gefühl, das sie als alleinerziehende Mutter suchte. Wenige Wochen später aber, «fiel ich aus allen Wolken». Nach einem gemütlichen Abend bei ihrem Bruder, sei er ausgerastet. «Ich erkannte ihn nicht wieder. Sein toter Blick», sagt sie. Sie habe ihn auf dem Heimweg gemahnt, dass er leise sein soll. Dies interpretierte er mit respektlosem Verhalten. «Ich werde dir Respekt beibringen», habe er gesagt. Und zugeschlagen.
Sie ist bei ihm geblieben. Weil er betonte, dass es ein einmaliger Ausrutscher war. Weil er versprach, es nie mehr zu machen. «Ich glaubte ihm. Heute weiss ich, dass das naiv war.» Auch wenn es Zeit brauchte, das Vertrauen kam zurück. «Wir waren wieder glücklich.» Bis zum 30. Juni. Nachdem er mit einem Bekannten der Zivil- und Strafklägerin etwas trinken war, kehrte der Angeklagte aufgebracht nach Hause zurück. Sie sei früher im Swinger-Club gewesen, so seine Anschuldigung. Schnell folgte Gewalt, Schläge. «Stärker als im April und nicht mehr nur an Orten, die ich gut kaschieren konnte.» Zu den Händen und Fäusten kam der Kleiderständer hinzu. «Warum sind Sie nicht geflohen», fragte der Verteidiger des Angeklagten. «Ich konnte ihn doch nicht mit meinem Kind alleine lassen.» Stattdessen spricht die Frau von einem Teufelskreis. Sie habe alles gemacht, damit es für ihn stimme, um keine Angriffsfläche zu bieten. «Es wurde besser, als ich genau wusste, worauf ich schauen muss.» Damit er ruhig bleibt. Schwierig war es aber weiterhin, wenn ihr Ex-Mann, der Vater ihres Sohnes, involviert war. Eifersüchtig sei er gewesen. Krankhaft.
Ohne Licht im Dunkeln
Ein weiteres Mal offenbarte sich dies am 12. August. «Klartext mit mir reden», das habe er gewollt. Ein richtiges Protokoll ihres Tages, ihrer Woche habe sie immer und immer wieder aufsagen müssen. Er untersuchte ihr Handy, glaubte einfach nicht, dass sie ihn nicht betrüge, untersuchte ihre Unterwäsche nach möglichen Spermaspuren. Und er schlug wieder. Diesmal würgte er auch. So stark, dass sie bewusstlos wurde, Urinabgang hatte. Und er machte sich lustig darüber, dass sie in die Hosen gemacht habe. Er vergewaltigte sie. Er urinierte auf ihr Kopfteil des Bettes, zwang sie, sich hineinzulegen. «Scheisse soll auf Scheisse schlafen», habe er gesagt. «Das Schlimmste folgte am nächsten Morgen», sagte sie vor Gericht aus. Weil ihr Sohn sie verletzt sah. Der Kommentar des Angeklagten: «Das ist das Resultat, wenn man lügt.» Weiterhin habe sie niemandem etwas gesagt. «Ich habe mich geschämt und ich war wie gelähmt.» Sie sei nur in der Sofa-Ecke gesessen, habe geweint.
Nur zwei Tage später folgte die nächste Attacke. «Er trank Alkohol und ich wusste, dass ich nun wieder geschlagen werde.» Er beschimpfte und schlug sie, und mitten in der Nacht forderte er sie auf, sich anzuziehen. «Ich habe mit meinem Leben abgeschlossen und dachte, dass ich meinen Sohn zum letzten Mal gesehen habe.» Er schleppte sie zu ihrem Auto, drückte sie auf die Beifahrerseite und fuhr los. Viel zu schnell. Und auf einer Ausserortsstrecke schaltete er das Licht aus, trotz absoluter Dunkelheit. Das Fahrzeug kollidierte mit mehreren Gegenständen, alle Airbags lösten aus. An jenem auf der Beifahrerseite wird später auch DNA der Frau gefunden. Sie solle aussteigen, befahl er. Weil sich ein Bus näherte, sollten sich beide im Maisfeld verstecken. «Er sagte, dass ich ruhig einen Mucks machen soll, dann bringe er mich um.» Er zog die Kordel aus dem Pullover, legte sie um ihren Hals und zog zu. Wieder Bewusstlosigkeit, wieder Urinabgang. «Ich habe mich dabei erwischt, dass ich mir wünschte, zu sterben.» Wieder kam sie zu sich. Daraufhin bewarf er sie mit Steinen, legte einen Stein unter ihre Hand und schlug mit einem zweiten darauf. Gleiches mit den Füssen. Er vergewaltigte sie, penetrierte sie mit einem Maiskolben.
Erinnerung kehrte zurück
Die Polizei rückte zum Unfallort aus, gab später zu Protokoll, eine Männerund eine Frauenstimme gehört zu haben. Die beiden blieben im Maisfeld aber unentdeckt. Gegen Morgen verliessen sie dieses. Zu Fuss machten sie sich auf den Weg in Richtung Spital Muri. Mantramässig habe er ihr gesagt, dass sie einen Autounfall gehabt habe und gefahren sei. «Bis mein Kopf es glaubte.» So gab sie es auch im Spital zu Protokoll, nachdem eine Velofahrerin nach dem Mittag die schwerverletzte Frau entdeckte. Auch von den vorherigen Übergriffen sagte sie nichts. «Ich hatte Angst.» Zwei Monate schwieg sie. «Ich vegetierte nur.» Nachdem ihr Sohn ihr sagte, sie nicht wiederzuerkennen, erwachte ihr Kampfgeist. Und die Erinnerung an die Unfallnacht und daran, dass sie gar nicht gefahren war und die Verletzungen keine Unfallfolgen waren. «Das sagten die Ärzte schon damals, aber ich wollte einfach nichts mehr hören, sagte nichts, liess mich nicht im Intimbereich untersuchen. Ich war überfordert, hatte Angst, wollte alles nur verdrängen.»
16 Jahre Freiheitsstrafe und Verwahrung beantragte die Staatsanwaltschaft. Mehrfacher versuchter Mord ist der gewichtigste Anklagepunkt. Neben mehrfacher Vergewaltigung, mehrfacher sexueller Nötigung und mehrfache Nötigung kamen weitere hinzu.
Audiodatei sei Rollenspiel
Und der Angeklagte? Der verweigerte seine Aussage. Stattdessen sprach sein Anwalt und forderte mit Ausnahme kleiner Vergehen gegen das Strassenverkehrsgesetz einen Freispruch und eine Entschädigung von über 300 000 Franken. «Unterschätzen Sie diese Frau nicht», appellierte er ans Gericht. Sie wolle seinem Mandaten etwas unterschieben. Vor allem aber machte er Verfahrensfehler geltend. Etwa sei das Beschleunigungsgebot verletzt worden, weil die Verhandlung erst fast vier Jahre nach der Verhaftung erfolgte. «Mein Mandant sitzt seit fast vier Jahren in einer zwölf Quadratmeter grossen Einzelzelle.» Zudem störte er sich daran, dass einige seiner Beweisanträge abgelehnt wurden, dass kein Glaubwürdigkeitsattest bei der Frau veranlasst wurde, dass gegen den Ex-Mann nicht auch ermittelt wurde. «Das Strafverfahren ist wegen elementarer Verletzungen der Strafverfolgung einzustellen.»
Aber er betonte auch, dass sein Mandant die vorgeworfenen Taten nicht verübt habe. «So wenige Tage nach Beziehungsbeginn, das ist doch absurd», meinte er zu den Schilderungen von April. Das seien reine Erfindungen der Frau. Vor allem, weil sie so lange schwieg und auch nach der Unfallnacht zuerst zwei Monate andere Aussagen machte. «Clever, nachher waren alle Beweise weg. Kein Maiskolben mehr, keine Steine, keine Kordel. Die Bettwäsche war gewaschen.» Darum fehlen die Beweise nun. «Und dies soll als Grundlage reichen, einen Mann für immer wegzusperren?» Zur Audiodatei, auf der zu hören ist, wie sein Mandant sagt, dass er entschieden habe, die Frau zu töten, sagt sein Verteidiger: «Ein Rollenspiel.» Dass sie aus Angst um ihr Leben und das ihres Sohnes nichts gesagt habe, bezeichnete er als Mumpitz.
Alles Vier-Augen-Delikte
Das Bezirksgericht sah es anders. In Bezug auf Antragsdelikte, für die innert der Frist keine rechtsgenüglichen Strafanträge eingingen, ordnete es die Einstellung ein. Auch Freisprüche gabs. In den wichtigsten Anklagepunkten wurde der Angeklagte aber schuldig gesprochen. 14 Jahre Freiheitsstrafe und Verwahrung lautet das Verdikt. «Ich weiss, das ist hart», wandte sich Koch an den Angeklagten. Seit Jahren ziehe sich Delinquenz durch seinen Lebenslauf, vor allem körperliche Übergriffe auf seine Partnerinnen. Einschlägige Vorbestrafungen zeigen, dass bereits zwei andere Frauen Opfer wurden. «Es soll kein viertes Mal passieren.» Therapien habe er bereis erhalten. Die bestmöglichen für seine attestierte schwere Persönlichkeitsstörung. «Chancen, die Sie nicht nutzten. Heute ist Ende der Fahnenstange. Die Gesellschaft und künftige Partnerinnen müssen vor Ihnen geschützt werden.» Die Gutachterin habe eindrücklich begründet, dass das Rückfallrisiko hoch sei. Dass die Gefahr hoch sei, dass andere Frauen gleiches erleben müssen.
Das Gericht sehe keinen Grund, an den Aussagen der Frau zu zweifeln. Weil Chatverläufe diese stützen, weil Zeugenaussagen passen, weil DNA gefunden wurde. «Stattdessen wirken seine Angaben zum angeblichen Autounfall der Frau unglaubwürdig.» Er sei bei seiner Mutter gewesen, habe nach einem Anruf seiner verunfallten Freundin ein Auto angehalten, um zum Unfallort zu gelangen. «So weit, so gut. Aber dann sind Sie mehrere Stunden umhergeirrt, statt die Liebste in diesem Zustand sofort ins Spital zu bringen?», fragte Markus Koch. Auch wenn die meisten Vier-Augen-Delikte seien. «Es gibt keinen Grund, ihren Aussagen nicht zu glauben.»