Solidarisch und barmherzig
11.11.2022 Rudolfstetten, MutschellenSeniorennachmittag mit Referat über das Armenwesen gestern und heute
Wer schaute für die Armen und Kranken, bevor der Staat die Sozialwerke wie AHV, IV und Krankenkasse eingeführt hat? Der Historiker und Soziologe Max Stierlin erklärte anhand des Wandels ...
Seniorennachmittag mit Referat über das Armenwesen gestern und heute
Wer schaute für die Armen und Kranken, bevor der Staat die Sozialwerke wie AHV, IV und Krankenkasse eingeführt hat? Der Historiker und Soziologe Max Stierlin erklärte anhand des Wandels der Gesellschaft in den letzten Jahrhunderten, wie sich das Armenwesen verändert hat.
Erika Obrist
«Unsere Generation hatte es am besten auf der Welt», bilanzierte Max Stierlin am Ende seines Referats. Viele Krankheiten sind dank dem medizinischen Fortschritt behandelbar, wenn nicht gar ausgerottet. Tierseuchen und Schädlinge richten längst nicht mehr so viel Unheil auf den Feldern an wie während Jahrhunderten. Sieben Jahrzehnte Frieden auf dem europäischen Kontinent und stetig wachsender Wohlstand. «Dafür müssen wir dankbar sein», so Stierlin.
Als der Grossteil der Bevölkerung noch in der Landwirtschaft tätig war, sorgte die Familie für Arme und Kranke. Auch die Pfarreien sprangen helfend ein, wo sie konnten. Es wurde auf solidarisches und barmherziges Handeln gesetzt: Hungernde speisen, Durstigen zu trinken geben, Fremde aufnehmen, Nackte bekleiden, Kranke und Gefangene besuchen und Tote begraben.
Neben der Familie kümmerten sich auch Nonnen und Mönche um die Kranken. In und um Bremgarten hat man die Franziskaner gerufen, wenn die Menschen Hilfe brauchten. Die Mönche wiederum lebten von milden Gaben.
Grosser Umbruch mit der Industrialisierung
Mit der Industrialisierung kam es zu einem grossen gesellschaftlichen Wandel. Viele Leute vom Land zogen in die Stadt, in der es Arbeitsplätze für Männer und Frauen gab. Weil auch die Frauen in der Fabrik arbeiteten, hatten die Paare weniger Kinder. Viele Fabrikanten bauten Arbeiterhäuser, sogenannte Kosthäuser, für ihre Angestellten. Diese waren meist Taglöhner: War jemand krank oder hatte einen Unfall, so gab es kein Einkommen. Deswegen verarmten etliche Familien. Die Verwandtschaft als soziales Netz jedoch fehlte ihnen und sie konnten Ältere, Behinderte und Waisenkinder nicht mehr mittragen. In Notfällen waren Pfarreien und Kirchgemeinden zuständig für die Armenpflege und für Sozialhilfe. Diese waren in den rasch wachsenden Fabrikorten jedoch überfordert.
Schulen, Spitäler, Heime
Mit der Aufhebung der Klöster im Aargau im Jahr 1841 verschwanden auch Schulen, Armenpflege, medizinische Versorgung und landwirtschaftliche Musterbetriebe. In den Gebäuden der aufgehobenen Klöster entstanden Institutionen der Ausbildung, Sozialfürsorge, Krankenpflege und Behindertenbetreuung, geleitet meist von Schwesternkongregationen. Es entstand ein «katholischer Sozialstaat». In der Region entstanden so in den aufgehobenen Klöstern ein Pflegeheim in Muri, ein Kinderheim in Hermetschwil, ein Altersund Pflegeheim im Gnadenthal und ein Behindertenheim in Bremgarten, die heutige St.Josef-Stiftung.
Max Stierlin ging in seinem Referat besonders auf die Veränderungen der St. Josef-Stiftung in Bremgarten ein. Als langjähriger Stiftungsrat kennt er diese aus eigener Anschauung. 1889 richteten die Ingenbohler Schwestern im ehemaligen Kapuzinerkloster die «Anstalt für schwach begabte Kinder St. Joseph» ein. «Damit leisteten sie Pionierarbeit», so Stierlin. Hier betreuten sie für Gotteslohn «unerwünschte Kinder». Unterstützt wurden sie von der Stadt und der Bevölkerung von Bremgarten. Sie führten den Betrieb hauptsächlich mit Spenden. Sie schufteten beinahe Tag und Nacht. Auch dann noch, als 1948 die Stiftung gegründet wurde und der Staat das Heim unterstützte. 1987 hat die Stiftung die Geschäftsleitung von den Ingenbohl-Schwestern übernommen. In diesem Jahr ist die letzte Schwester nach Ingenbohl zurückgekehrt.
Die Ingenbohl-Schwestern haben sich hohe Verdienste erworben mit der Gründung und dem Führen von Primar-, Sekundar-, Haushaltungs-, Handarbeits-, Taubstummen- und Mittelschulen. Sie haben Spitäler betrieben, Privatpf legestationen, ein Sanatorium und eine psychiatrische Klinik. Und sie haben Krankenschwestern ausgebildet. Dazu kamen Kinder- und Säuglingsheime, Bürgerund Altersheime sowie Mädchenund Damenheime. Eine unglaubliche Leistung. «Wir sind zu wenig dankbar für die Leistungen, welche Menschen erbringen, die sich irgendwo engagieren», so Max Stierlin. Abgelöst wurde die «katholische Sozialhilfe» nach dem Zweiten Weltkrieg durch die staatliche. Nach und nach wurden die AHV eingeführt, die IV, die Arbeitslosenversicherung, die Pensionskassen, die obligatorische Kranken- und Unfallversicherung und der Mutterschaftsurlaub.
Staat übernahm die Aufgaben
Heute leben wir in einer Dienstleistungsgesellschaft. Es gibt mehr Berufe, vielfältige Lebensformen und die Bereitschaft, sich lebenslang fortzubilden. War früher die Kirche im Gesundheits-, Sozial- und Schulbereich tätig, so ist das heute der Staat.
«Noch immer gilt aber», wie Max Stierlin am Seniorennachmittag der Arbeitsgruppe für Altersfragen Mutschellen im Pfarreizentrum in Rudolfstetten vor rund achtzig Personen ausführte, «dass Katastrophen die Solidarität wecken und dass Kriege und Bedrohungen die Identität stärken. Selbst der Geschichtsunterricht, wie er in der Schweiz erteilt wird, ist ein einziger Aufruf zur Solidarität.»