«Ich sags direkt: Du bist Bombe»
23.08.2024 MuriSommerserie «Blick hinter die Kulissen»: Demenz-Wohngruppe B der Pflegi Muri
«Gut», sagt die Frau, die neben mir am Tisch sitzt. Dann ist da wieder diese Stille. Diese Ruhe, die nur durch Kaffee-Löffel, die an die Glasschälchen schlagen, unterbrochen ...
Sommerserie «Blick hinter die Kulissen»: Demenz-Wohngruppe B der Pflegi Muri
«Gut», sagt die Frau, die neben mir am Tisch sitzt. Dann ist da wieder diese Stille. Diese Ruhe, die nur durch Kaffee-Löffel, die an die Glasschälchen schlagen, unterbrochen wird. Oder durch Mitarbeitende, die danach fragen, ob sie noch einen Sirup, er noch einen Kaffee oder sie noch ein wenig
Annemarie Keusch
Dessert mag. Es ist 14.15 Uhr in der Küche der Demenz-Wohngruppe B der Pflegi Muri. Zeit für ein Dessert. Heute sind es zweierlei Crèmen, samt Aprikosen-Schnitzen. Um einen richtigen Einblick zu erhalten, soll ich mich doch einfach eine halbe Stunde mit an den Tisch setzen, sagt Wohngruppenleiterin Barbara Tellenbach. Natürlich folge ich ihrem Ratschlag und stelle schnell fest, wie mich diese Situation fordert. Dass es schwierig sei, Konversationen aufzubauen, das erwähnte Tellenbach. Viel mehr Fragen, als wie das Dessert schmecke oder ob er noch einen Kaffee wolle, fallen mir nicht ein. Neben mir sitzt eine Frau, die nur Italienisch spricht. «Signora», nennen sie alle. Auch meine spärlichen Italienisch-Vokabeln sind in diesem Moment weg. Ich bin überfordert, sitze da, trinke meinen Kaffee, lächle.
Zwei Demenz-Wohngruppen gibt es in der Pflegi Muri, in dieser leben 16 Bewohnerinnen und Bewohner, im Löwen-Gebäude deren 18. Hinzu kommt das Tages- und Nachtzentrum, das auch von Barbara Tellenbach geleitet wird. «Seit eineinhalb Jahren gibt es dieses Angebot. Hier kommen demente Personen tageweise, für ein paar Nächte oder für eine Woche hin, um deren Angehörige zu entlasten», erzählt sie. Oft sind es solche, die auf der Warteliste für die Aufnahme in eine der Wohngruppen stehen. «Die Nachfrage ist gross», weiss Tellenbach. 16 Leute mit Alzheimer oder Altersdemenz in einer Gruppe. Was ist überhaupt der Unterschied zwischen Demenz und Alzheimerdemenz? Gibt es einen? «Alzheimerdemenz entsteht durch Ablagerungen im Kopf, Altersdemenz kommt oft von Gefässerkrankungen», versucht es Tellenbach vereinfacht zu erklären. Alzheimerdemenz kann medikamentös behandelt werden, dies kann den Prozess etwas verlangsamen, die Demenz aber nicht heilen. Die Symptome sind bei jedem an Demenz erkrankten Menschen unterschiedlich. Stereotype Bewohner gibt es auf dieser Wohngruppe keine, jeder hat seine eigenen Vorlieben, Wünsche und Bedürfnisse und äussert diese entsprechend seiner Möglichkeiten.
Selbstbestimmung wichtiges Gut
Das Gespräch mit Barbara Tellenbach findet im Flur statt. Hier, wo die Bewohnerinnen und Bewohner entlangspazieren. «Bei uns sind immer alle Türen offen», sagt die Wohngruppen-Leiterin. Auch jene der Mitarbeitenden. «Es kann gut sein, dass eine Patientin sich neben mich setzt, wenn ich Rapporte schreibe.» Ein Problem sei das nicht, auch in Sachen Datenschutz. «Es ist leider so, dass unsere Bewohnenden nichts mitbekommen oder sich merken können.» Auch während des Gesprächs setzt sich ein Mann neben sie aufs Sofa, berichtet von langen Zähnen und gerät ins Schwärmen, wenn sie ihn auf das bevorstehende Dessert anspricht. «Ein Kaffee mit Guetzli, das tönt schön.» Viel mehr sagt er nicht. Auch zuzuhören scheint er nicht. Stattdessen sitzt er da, kaut auf einem Zahnstocher, geht nach ein paar Minuten wieder.
Auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten eingehen ist mit dem Selbstbestimmungskonzept «Meine 24 Stunden» in der ganzen Pflegi omnipräsent, in den Wohngruppen ganz besonders. «Gleichzeitig ist es hier enorm wichtig, dass wir Strukturen bieten.» Tellenbach spricht vom Sundowning-Syndrom, das viele Demente nachts aktiv sein und tags schlafen lässt. «Sie montieren Dinge ab, reissen im geschützten Garten Pflanzen aus, rücken Stühle umher.» Wenn es nicht gefährlich ist, lassen die Mitarbeitenden sie machen. «Wir greifen nur bei Streitigkeiten oder gefährlichen Situationen ein», sagt Tellenbach. Möglichst selten bleibt auch der Einsatz von Medikamenten, konkret Beruhigungsmitteln, und auch dann nur, um den Bewohner oder die Bewohnerin selbst oder andere vor Schaden und Verletzungen zu schützen.
Von 66- bis 98-jährig
Barbara Tellenbach beschreibt die Wohngruppe wie eine grosse Familie. Der Hauptteil des Alltags findet in den Gemeinschaftsräumen statt, oder im Sommer im Garten. In den Zimmern seien die Bewohnerinnen und Bewohner selten. Gross ist an den Türen angeschrieben, wer wo schläft. «Wobei, das stimmt längst nicht immer. Sie verwechseln auch Zimmer, legen sich dorthin, wo das Bett noch frei ist», erzählt Tellenbach. Da nützen auch die grossen Bilder nichts, die bei jedem Namen stehen. Hier eine Moto Guzzi, da eine Katze, hier eine Klarinette. Es sind Verbindungen zu den Geschichten und Biografien der Leute, die hier leben. Barbara Tellenbach betont: «Ihre Vergangenheit zu kennen, ist enorm wichtig, um mit ihnen umgehen und sie verstehen zu können. Gerade weil sie häufig in der Vergangenheit leben, von ihren Eltern erzählen.
Die Jüngste ist 66-jährig, die Älteste 98-jährig – und nach wie vor körperlich fit. Wie zum Beweis kommt sie schnellen Schrittes auf die Polstergruppe zu, wo das Gespräch stattfindet. Wie es gehe, fragt sie. Und ob wir etwas zu Mittag gegessen hätten. Tellenbach antwortet, fragt zurück. «Eben nicht, ich hoffe sehr, es gibt bald wieder etwas Anständiges.» Ich grinse, Barbara Tellenbach auch. Dass das Mittagessen erst kürzlich war und dass es gut war, daran erinnert sie sich bereits nicht mehr. «Das kann manchmal auch während dem Essen passieren.» Kurze Zeit später kommt die Frau nochmals, zeigt mit dem Finger auf uns. «Jetzt reichts», sagt sie. Ich versuche, nicht zu grinsen. Sie kenne uns beiden schon lange, jetzt sei einfach genug. «Ja, Sie haben recht», sagt Barbara Tellenbach. Die Frau läuft wieder davon.
Dann heisst sie auch mal Esther
Humor sei nicht schlecht, um den Alltag in der Wohngruppe bewältigen zu können, sagt die Leiterin. Und Liebe. «Liebe den Menschen gegenüber.» Hinzu kommen Verständnis und natürlich ganz viel Fachwissen. «Unsere Bewohnerinnen und Bewohner können ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse kaum formulieren. Entsprechend wichtig sind Mimik und Gestik, die richtig gedeutet werden wollen.» Respekt sei ebenfalls wichtig. «Alle Menschen hier waren einst gestandene Persönlichkeiten, auch wenn die Krankheit ihnen vieles genommen hat.» Einander Sie zu sagen, ist eine dieser Respektsbekundungen. «Auch wenn sie uns oft duzen und nicht immer mit dem richtigen Namen.» Barbara Tellenbach lächelt. Von einer Bewohnerin werde sie immer mit Esther angesprochen. «Das ist doch kein Problem. Es ist unsere Aufgabe, auf die Frauen und Männer einzugehen. Wenn das in diesem Fall heisst, dass ich Esther heisse, dann ist dem so.» In einem anderen Fall füttert sie die Pferde eines ehemaligen Landwirts, der Angst hat, dass sie verhungern. «Wenn ich sage, dass ich das übernehme, ist seine Welt wieder in Ordnung.» Heisst, sie lügt. «Ich würde das nicht so nennen. Wir versuchen den Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner so leicht wie möglich zu machen. Eben wenn nötig auch auf diese Art.»
Zurück am Esstisch. Nicht immer wandert der Löffel in den richtigen Teller. Nicht immer transportiert er die Crème in den Mund. Eine Frau kippt sie in den Orangensirup, ein Mann versucht sie dort herauszufischen. «Hesch scho gseh?», fragt ein anderer Mann im Minutentakt. Vom Gang her sind laute Atemgeräusche in noch höherer Kadenz wahrzunehmen. Ein Mann appelliert immer wieder daran, alle Tiere auf der Welt doch freizulassen. Ein anderer fragt, weshalb er eine Tablette nehmen muss. «Nein, heute Nachmittag habe ich keine Zeit für den Garten, es ist sonst noch viel los», sagt ein Mann voller Überzeugung.
Barbara Tellenbachs Stellvertreter hilft einer Frau beim Essen, ein Mitarbeiter macht Sirup, eine Mitarbeiterin gibt einem anderen Mann das Dessert ein, streicht ihm dabei über den Arm, ebenso macht es Barbara Tellenbach. Auch als Leiterin der Wohngruppe nimmt sie sich nicht aus dem praktischen Alltag heraus, sondern pflegt mit. «Es macht Spass, weil kein Tag ist wie der andere. Man weiss nie, was einen erwartet.» Das wusste auch ich nicht, bevor ich einen Nachmittag in der Wohngruppe B der Pflegi verbrachte. Ich winke, verabschiede mich, drücke meine Hochachtung aus. Aber am einfachsten würde ich es sagen wie einer der Bewohnenden. «Du bist Bombe, ich sags direkt so.»