Hilfe im gewohnten Umfeld
08.08.2023 Spitex, Mutschellen, Region Bremgarten, Bremgarten
Begleitung der Spitex Mutschellen-Reusstal zu zwei Fällen
Die Spitex Mutschellen-Reusstal bietet im Auftrag der Gemeinden verschiedene Dienstleistungen bei den Erkrankten zu Hause an. Diese Zeitung durfte bei der Behandlung eines psychisch Erkrankten und bei einer ...
Begleitung der Spitex Mutschellen-Reusstal zu zwei Fällen
Die Spitex Mutschellen-Reusstal bietet im Auftrag der Gemeinden verschiedene Dienstleistungen bei den Erkrankten zu Hause an. Diese Zeitung durfte bei der Behandlung eines psychisch Erkrankten und bei einer Wundbehandlung dabei sein.
Roger Wetli
«Ich hatte im Juli 2022 einen grossen Schub. Dieser hat mich dermassen aus der Bahn geworfen, dass ich mich kaum noch aus meinem Zimmer getraut habe. Dermassen stark litt ich unter Angstzuständen», erzählt ein sichtlich stabiler Ramon Meier (Name geändert). Der Mann wohnt mit seiner Frau und den drei schulpflichtigen Kindern in der Region. «Dank der Hilfe der Spitex getraute ich mich kürzlich wieder, mit der Bahn nach Dietikon zu fahren. So etwas war für lange Zeit völlig undenkbar für mich.» Betreut wird Meier zu Hause durch Linda Küng, diplomierte Pflegefachfrau HF mit Fachrichtung Psychiatrie von der Spitex Mutschellen-Reusstal. «Wir erhalten die Aufgebote durch eine Klinik oder einen Hausarzt. Der Erstbesuch findet zu zweit mit sehr wenigen Informationen über den Patienten statt. Wir möchten unvoreingenommen die Situation aufnehmen und gemeinsam nach Lösungen suchen.»
Giftige Kombination
Der Familienvater leidet seit seinem 16. Lebensjahr an psychischen Störungen, hatte diese aber nach früheren Tiefs mehrheitlich im Griff. «Die Massnahmen zur Abschwächung der Pandemie haben bei mir diesen Totalabsturz verursacht», erklärt er. «Wobei ich vorbelastet bin. Meine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ‹ADHS› ist zusammen mit meinem Borderlinesyndrom eine giftige Kombination, die zu Panikund Angstattacken führt.» Für Meier besonders belastend: Als Vater wollte er eigentlich für seine Familie da sein, konnte es aber nicht. «Das hat die Symptome zusätzlich verstärkt. Zeitweise fühlte ich mich wie in Narkose, bekam aber trotzdem alles um mich herum mit.» Der Aufenthalt in einer Klinik führte nicht zum Erfolg, da er sich dort unwohl fühlte. «Ich brauche mein Umfeld hier», weiss Ramon Meier. «Deshalb ist die psychiatrische Spitex die beste Methode für mich. Dafür bin ich sehr dankbar.»
Schritt für Schritt
Linda Küng spricht von einer Situation, in der es zu Beginn bereits ein Erfolg gewesen sei, wenn der Patient sein Zimmer verlassen konnte. «Wir arbeiten Schritt für Schritt und lassen uns von Einbrüchen nicht unterkriegen», sagt sie bestimmt. Und Meier pflichtet ihr bei. Für Küng ist es entscheidend, das Umfeld des Patienten zu kennen und seine Familie in die Massnahmen einzubeziehen. «Wir bauten wieder Tagesstrukturen auf, die ihm Sicherheit geben. Zudem suchten und suchen wir Strategien, wie er mit seinen Angstzuständen umgehen kann.» Zu Beginn seien es zwei bis drei Besuche pro Woche gewesen, mittlerweile kommt Küng alle zwei Wochen vorbei.
Meier hat eine Arbeit als Abwart in den Mehrfamilienhäusern um seine Mietwohnung gefunden. «Hier kann ich ganz ohne Zeitdruck dann arbeiten, wenn es mir gut geht. Alle wissen, dass ich psychisch krank bin», erklärt er. Und schiebt nach: «Der Nachteil meines Schicksals ist, dass man mir von aussen meine Krankheit nicht ansieht. Man wird als Simulant bezeichnet. Das nicht mal unbedingt mit Worten, aber ich spüre es.»
Vertrauen und Verbindlichkeit
Bei Meier steigerte sich die Angst dermassen, dass er sich durch die Panik vor der Krankheit selber zusätzlich lähmte. Ein Teufelskreis. «Ein Schlüssel bei Ramon Meier ist der Humor. Mit diesem kann man ihn aus der Reserve locken. Aber jeder Klient ist anders. Das macht sie für mich auch dermassen spannend», so Küng. Sie betont, dass sie nur etwas bewirken könne, wenn der Klient auch wolle: «Die Hausbesuche der Spitex haben den Vorteil, dass die Klienten nicht den Weg in eine Praxis auf sich nehmen müssen. Das schafft mehr Vertrauen und Verbindlichkeit bei psychisch Labilen.»
Meier sei ein sehr dankbarer Patient, was motiviere, sie aber nicht immer antreffe. «Wichtig ist jetzt, dass sich Ramon Meier nicht übernimmt, wenn es ihm gut geht. Denn das führt bei ihm schnell zu Rückfällen. Daran arbeiten wir.» Erschwerend komme hier dazu, dass Medikamente bei ihm nichts nützen oder umso stärker einschlagen. Darum seien diese hier tabu. «Die Spitexbesuche sind für mich ein Rettungsanker», betont Meier. «Dass es mir wieder gut geht, verdanke ich ihr, meiner Frau und den Kindern.»
Mit der Krankheit leben lernen
Keine psychischen Probleme hat die zweite Patientin, bei welcher die diplomierte Wundexpertin der Spitex Patricia Stierli in einem anderen Haushalt gerade den Verbandwechsel vornimmt. «Ich bin zum Glück eine Frohnatur, sonst würde es mir wohl viel schlechter gehen», sinniert Doris Widmer (Name geändert). Ihre Krankheit bricht immer wieder aus, vornehmlich in der warmen Jahreszeit, und verursacht offene Wunden und Vernarbungen an den Beinen. Dieses Leiden begleitet die rüstige Frau schon seit sie zwanzig ist. Die entscheidende Diagnose stellte ein Arzt in Basel aber erst 2018, nachdem er Blutproben von ihr nach Boston geschickt hatte. «Mein Körper produziert kein eigenes Eiweiss, weshalb ich dieses jetzt mittels regelmässiger Infusion künstlich aufnehme.» Als Prävention zur Steigerung der Durchblutung trägt sie Stützstrümpfe.
Platzen im Sommer die Wunden auf, müssen diese steril gereinigt und mithilfe von Wundauflagen wieder geheilt werden. Dabei kommt die Spitex Mutschellen-Reusstal ins Spiel. «Wir behandeln die Wunden bei den Patienten zu Hause. Zudem leiten wir diese und ihr Umfeld an, zum Beispiel den Ehemann», gibt Patricia Stierli Einblick. «Auch hier ist es wichtig, dass wir zusammen mit den Patienten ein direktes Umfeld schaffen, in dem sie mit der Krankheit leben können, so lange sie nicht verheilt ist.» Sie betont: «Bei solchen immer wiederkehrenden Wunden kann eine Behandlung schon mal sechs Monate dauern, in diesem Fall sind wir aber hoffentlich in zwei bis drei Monaten durch.»
Zuerst oft verunsichert
Doris Widmer hat gelernt, ihre Krankheit zu akzeptieren. Um die Hilfe der Spitex ist sie sehr froh. «Frau Stierli hat mir gezeigt, wie ich trotz meinem Leiden meinen Alltag gestalten kann, denn die Wunden schränken schon ein. Und natürlich ist es eine sehr grosse Hilfe, dass sie mich direkt zu Hause besucht und ich nicht immer eine Praxis oder ein Spital aufsuchen muss.» Stierli ergänzt: «Nachdem die Patienten aus einer Klinik zu Hause ankommen, sind sie zuerst oft verunsichert. Wir fangen sie auf, nehmen sie und ihre Anliegen ernst und geben Sicherheit.»
Wie bei Linda Küng ist auch bei Patricia Stierli entscheidend, dass sie auf jeden Patienten individuell eingeht und dabei gangbare Wege und Kompromisse bei der Wundbehandlung beschliesst, die nicht unbedingt im Lehrbuch stehen. «Und da wir die Patienten nach Bedarf mehrmals pro Woche besuchen, können wir auch flexibler auf die Heilungsfortschritte reagieren, als wenn einfach eine Anweisung für mehrere Wochen mit einer einzigen Kontrolle angeordnet wird.»
Starke Zunahme der Patienten
Die Spitex Mutschellen-Reusstal bietet ihre Dienstleistungen im Auftrag von 14 Gemeinden mit rund 43 000 Einwohnern an. Diese tragen die Restkosten, welche durch die Krankenkassen nicht gedeckt sind. Beim Wachstum der Spitex handelt es sich um eine gewollte Entwicklung gemäss dem Grundsatz «ambulant vor stationär».
So wurden zum Beispiel Anfang 2022 noch 70 psychisch Erkrankte durch die Spitex Mutschellen-Reusstal betreut, heute sind es rund 120. Die Patienten aller Dienstleistungen der Spitex sind nicht nur pensionierte Personen, sondern solche jedes Alters.
Mit wachsender Klientenanzahl und damit verbundener Zunahme an erbrachten Leistungsstunden steigen die Kosten für die 14 Gemeinden. Per Ende 2022 beschäftigte die Spitex Mutschellen-Reusstal 109Mitarbeitende, aufgeteilt in 57Vollzeitstellen.
Kürzlich hat die Spitexorganisation im zweiten Jahr der Fusionierung das für die Betriebsbewilligung erforderliche Qualitätsaudit des Kantons erfolgreich absolviert.
--rwi