Gegenpole halten sich die Waage
15.03.2024 MuriThomas von Grünigen, ehemaliger USA-Korrespondent des Schweizer Fernsehens, spricht in Muri über die US-Politik
Wer wird im November bei den US-Präsidentschaftswahlen wohl das Rennen machen – Trump oder Biden? Unter dem Titel «USA – ...
Thomas von Grünigen, ehemaliger USA-Korrespondent des Schweizer Fernsehens, spricht in Muri über die US-Politik
Wer wird im November bei den US-Präsidentschaftswahlen wohl das Rennen machen – Trump oder Biden? Unter dem Titel «USA – Demokratie ausser Kontrolle?» ordnet Journalist Thomas von Grünigen das aktuelle politische und gesellschaftliche Geschehen in den Vereinigten Staaten ein – und erläutert, was es mit dem «Phänomen Trump» auf sich hat.
Celeste Blanc
Es sind Bilder, die man nicht so schnell vergisst: Am 6. Januar 2021 stürmen Anhänger vom noch amtierenden Präsidenten Donald Trump den Kongress in Washington. Kurz zuvor wurde verkündet, dass der demokratische Herausforderer Joe Biden das Rennen im Präsidentschaftswahlkampf für sich entschieden hatte. Die Szenen halten die westliche Welt in Atem. Und vergegenwärtigen das Ausmass einer noch die dagewesenen Krise im amerikanischen Demokratieverständnis.
Doch wie schaffte es Donald Trump, dieses hemmungslose Verhalten bei einem Teil seiner Wählerschaft hervorzurufen und Misstrauen in die Funktionsweisen des Staates zu säen? Diese Veränderung sei bereits im September 2015 zu spüren gewesen, weiss Thomas von Grünigen, der für das Schweizer Fernsehen von 2015 bis 2021 über das politische und gesellschaftliche Geschehen aus den USA berichtete. Aus erster Hand weiss er: «Gesehen habe ich es das erste Mal bei Demonstrationen im Wahlkampf. Mit dem Auftauchen vom Trump ist etwas im Land passiert, das alte Konflikte aufgebrochen und enorme Spannungen und Hass zutage gefördert hat.»
Anti-demokratische Elemente sind auszumachen
Mit Trump sei das Klima innerhalb der Bevölkerung wütender, hemmungsloser, «radikaler» geworden, wie es von Grünigen pointiert festhält. Auszumachen sei die Radikalität in der neu geschaffenen Basiswählerschaft der Republikaner, die sich im letzten Jahrzehnt formierte. «Und die in Trump eine Art Erlöser sehen, weil er es wagt, die Dinge anzusprechen», so der Experte. Auch wenn bei den Präsidentschaftswahlen 2016 ein Grossteil der Republikanischen Partei hinter Trump gestanden habe, setze sich – wie Grünigen vereinfacht festhält – der grosse Hauptkern aus rassistischen «nostalgischen Weissen», konservativ-fundamentalistischen Christen und Anarchokapitalisten zusammen. Und liege eine potenzielle Gefahr für die Demokratie: «Vor allem die ‹nostalgischen› Weissen und die christlichen Fundamentalisten zeichnen sich durch anti-demokratische Elemente aus. Etwa, indem sie die Verfassung oder die Legitimation des Rechtsstaates aberkennen.»
Politikstrategie hat Ursprung im Rassismus – bis heute
In eine historische Komplexität in der Gesellschaft eingebunden ist dabei der noch immer stark verankerte Rassismus der «nostalgischen» Weissen, der hauptsächlich von der nicht genügend aufgearbeiteten Geschichte der Sklaverei rührt. «Es ist Fakt: Die USA als Nation ist hervorgegangen aus einem der grössten Unrechte der Menschheitsgeschichte», so von Grünigen. Noch bis in die 1950er-Jahre zählte die Segregation zum gelebten Alltag. «Bis dahin herrschte bei vielen Weissen klar die Vorstellung, dass das ‹wahre› Amerika das ‹weisse› Amerika ist.» Kommt hinzu, dass beide Parteien den Rassismus befeuerten. So waren etwa die Demokraten bis in die 1970er-Jahre die Partei der Rassentrennung. Erst unter den demokratischen Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson verschrieben sich die Demokraten der Bürgerrechtsbewegung. «Nicht etwa aus Menschlichkeit, sondern aufgrund des Wählerpotenzials von Afroamerikanern und jungen Amerikanern, die sich für die Bewegung einsetzten.» Im Gegenzug prägten die Republikaner fortan unter Richard Nixon und Ronald Reagan mit dem gleichen politischen Kalkül die «Southern Strategy». «Ihre Politik richtete sich neu gezielt an ebendiese ‹nostalgischen› Weissen, die den Schwarzen keine Rechte zusprechen wollten», erläutert der Experte weiter. Dieser ursprüngliche Gedanke der Republikaner hält sich bis in die heutige Zeit. An diese knüpft eben auch Donald Trump mit «Make America great again» (dt: Machen wir Amerika wieder grossartig) an. Denn: «Wenn Amerika für jemanden ‹great› war, dann nur für die Weissen.» Dieses zutiefst rassistische Gedankengut wird damit im Wahlslogan eines Kandidaten postuliert – und von Tausenden Menschen offenkundig getragen. Doch von Grünigen hält auch fest: «Nicht alle Weissen sind Rassisten. Und viele tragen den Slogan, ohne sich dessen bewusst zu sein.»
Antipathien gegen Trump seien nicht zu unterschätzen
Donald Trump sei es gelungen, diese unterschiedlichen Gruppen unter sich zu vereinen. Deshalb erstaunt es, dass vermutlich auch viele Latinos ihre Stimme dem republikanischen Kandidaten geben werden. «Auch wenn er sich feindlich gegenüber den Immigranten äussert, kommen diese in der Regel aus sozialistischen Staaten wie Kuba oder Venezuela, vor denen sie flüchten. Deshalb wählt ein Teil rechts», ordnet der Experte ein. Mit einer historischen, gesellschaftlichen und politischen Präzision schafft es Thomas von Grünigen an diesem Abend, einen vertieften Einblick in die gesellschaftlichen Strukturen der USA zu geben. Und damit mehr Einsicht zu schaffen, wie in der grössten Demokratie der Welt das «Phänomen Trump» überhaupt möglich ist. Gleichwohl betont er auch, dass, damit Donald Trump gewählt werden würde, noch einiges passieren muss. Schliesslich habe er es mit seinem Auftreten auch geschafft, die Menschen gegen sich aufzubringen, darunter auch gemässigte Wähler und Unternehmer. «Und, nicht zu unterschätzen, die Frauen», so von Grünigen. Denn durch Trumps Befürwortung des Abtreibungsverbots sei davon auszugehen, dass die Frauen sich besonders einsetzen werden. Kommt hinzu, dass Frauen einen Grossteil der Suburbs, also der Vorstädte, bewohnen.
Vorstädte spielen bei Wahlen wichtige Rolle
Für von Grünigen liegt hier eine der grossen Schlüsselwählerschaften im anstehenden Wahlkampf. «Die Vororte bewegen sich zwischen städtisch demokratisch und ländlich republikanisch. Mit Trumps radikalen Auftritten ist davon auszugehen, dass hier die Wählerschaft eher zu den Demokraten tendiert», so von Grünigens Einschätzung. Hinzu kommt, dass Joe Biden bei der Rede zur Lage der Nation vor wenigen Tagen einen brillanten Auftritt und eine starke Rede gehalten hat. «Keine Altersschwäche, kein Stottern. Joe Biden war souverän. Es war wohl seine beste Rede.» Auch das könnte den Demokraten im anstehenden Wahlkampf Aufwind geben. Doch auch hier schwebt das Damoklesschwert über dem amtierenden Präsidenten: «Biden ist in seiner Amtszeit oft negativ aufgefallen mit Aussetzern. Hat er in dieser Phase einen Spitalaufenthalt, ist das Rennen vermutlich gelaufen.»
Gewaltentrennung geschätzt
Trotz der grossen Differenzen im Land ist sich Thomas von Grünigen sicher, dass gemessen an der aktuellen Lage die Wahlen zugunsten von Joe Biden laufen. Und auch wenn die US-Demokratie aktuell unter den anti-demokratischen Elementen ächzt, erachtet der US-Kenner diese nicht als gefährdet. «Trotz allem kennen die Amerikanerinnen und Amerikaner ihre Gewaltentrennung und schätzen diese», so Grünigen. Es gebe aktuell noch immer genug Gegenpole, auch innerhalb der Gesellschaft.

