Für sie ist es Paragrafenreiterei
31.03.2023 MuriAssistenzärzte, die in Praxen aushelfen – so einfach geht das nicht mehr
Georg Pfisterer, Arzt im Ärztezentrum im Chilefeld, ist drei Wochen in den Ferien. Seit Jahrzehnten werden solche Stellvertretungen teilweise von Assistenzärzten des Spitals ...
Assistenzärzte, die in Praxen aushelfen – so einfach geht das nicht mehr
Georg Pfisterer, Arzt im Ärztezentrum im Chilefeld, ist drei Wochen in den Ferien. Seit Jahrzehnten werden solche Stellvertretungen teilweise von Assistenzärzten des Spitals übernommen. Nun hat der Kanton bemerkt, dass das seit 2010 nicht mehr ginge.
Natürlich, auch hier war die Anfrage grösser als das Angebot. «Immer klappte es nicht, dass ein Assistenzarzt oder eine Assistenzärztin des Spitals Muri die Ferienstellvertretung übernehmen konnte», sagt Verena Gantner, eigentlich pensionierte Ärztin. Aber grundsätzlich funktionierte dieses System im Freiamt – und das seit Jahrzehnten. Nun ist es zumindest vorerst vorbei damit. Denn laut Verordnung ist dafür eine Bewilligung vom Kanton einzuholen. Und das schon seit zwölf Jahren. Infolge einer Anfrage hat der Kanton festgestellt, dass dies «nicht überall einheitlich nach Gesetz gehandhabt
wird», wie es seitens der Kommunikationsstelle des Departements Gesundheit und Soziales beschrieben wird. Eine Woche bevor Georg Pfisterer seine Ferien antrat, wurde das Ärztezentrum in Kenntnis gesetzt. Das ärgert die pensionierte Ärztin, die kurzfristig einspringen muss, die Patientinnen und Patienten sowie allgemein die Hausärzte. --ake
Weiterer grosser Stein im Weg
Fehlende Stellvertretung beim Ärztezentrum im Chilefeld – der Ärger bei Verena Gantner ist gross
Dass sie eigentlich pensioniert wäre, ist das eine. Das für Verena Gantner viel grössere Problem ist, dass der Kanton kurzfristig entschied, dass Assistenzärzte des Spitals Muri zumindest vorübergehend nicht mehr Ferienstellvertretungen in Praxen übernehmen können. Mit ihrer Besorgnis steht sie im Freiamt nicht allein da.
Annemarie Keusch
Verena Gantner sitzt im Behandlungszimmer von Georg Pfisterer, Arzt für Allgemeinmedizin. Es ist für zwei Wochen ihr Arbeitsplatz geworden. Unverhofft, überstürzt. Dabei hatte Georg Pfisterer schon letzten Herbst angekündigt, dass er im März drei Wochen Ferien beziehen will. Wie seit Jahrzehnten Usus hat das Ärztezentrum sämtliche geplanten Ferienabwesenheiten letzten Herbst dem Spital gemeldet, mit der Bitte, dass während dieser Abwesenheiten eine Assistenzärztin oder ein Assistenzarzt die Stellvertretung übernimmt. In den 80er-Jahren wars, als diese Praxis im Freiamt begann, seither funktioniert sie einwandfrei. «Das ist für beide Seiten ein Gewinn», findet auch Verena Gantner, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin.
Dass es dafür Regeln braucht, das steht auch für die Ärztin ausser Frage. Bevor die Assistenzärztinnen und -ärzte eine solche Vertretung übernehmen, durchlaufen sie im Spital Muri eine Ausbildung auf den Bettenstationen sowie auf dem Notfall und in der Notfallpraxis. Vereinfacht sagt Verena Gantner: «Das sind keine Lehrlinge.» Komme hinzu, dass jederzeit Rücksprache mit Fachärzten des Spitals genommen werden könne, die Assistenzärztin oder der Assistenzarzt die Praxis vorher kennenlernt und das Personal und die Patientenunterlagen immer da seien. «Für die Patientinnen und Patienten entsteht kein Qualitätsverlust. Aber ja, Assistenzärzte haben keine Berufsausübungsbewilligung. Sie sind eben noch in ihrer Weiterbildung.»
Formular für Bewilligung fehlt noch
Natürlich gibt es dazu auch Gesetzesartikel. In der Verordnung über die Berufe, Organisationen und Betriebe im Gesundheitswesen sind diese zusammengefasst. Und diese wurde dahingehend geändert, dass jede Stellvertretung eines Assistenzarztes in einer Praxis vom Kanton bewilligt werden muss. «Diese Änderung erfolgte nicht per 2023. Jetzt hat es einfach jemand gemerkt», sagt Verena Gantner. Roli Schumacher, Arzt für Allgemeinmedizin in Villmergen und ebenfalls direkt Betroffener, formuliert es so: «Es wird verständlicherweise angeführt, dass die schriftliche Einholung einer entsprechenden Bewilligung bislang versäumt wurde. Dieses Versäumnis erfolgte nie willentlich, sondern war und ist der Unkenntnis der Gesetzesgrundlage geschuldet. Niemandem kam es in den Sinn, eine jahrzehntealte, institutionalisierte Organisation infrage zu stellen.»
Das Einholen einer Bewilligung, für Gantner und Schumacher wäre es kein Problem. Schumacher platzierte beim Kanton gar einen skizzierten Vorschlag, wonach das Spital dem Departement Gesundheit und Soziales zwei Monate vor Antritt der Ferienvertretung den Namen der Praxisinhaber, den Namen des Assistenten und die Dauer der Ferienvertretung mitteile. «Es soll einfach möglichst unkompliziert und unbürokratisch sein», findet Verena Gantner. Nur, aktuell gibt es kein solches Formular, folglich kann aktuell noch keine Bewilligung für eine Ferienstellvertretung eingeholt werden. Bis seitens des Kantons ein solches ausgearbeitet wurde, ist die Ferienstellvertretung durch Assistenzärzte folglich auf Eis gelegt. «Das ist ärgerlich und nervt», sagt Verena Gantner. Einen Zeithorizont gebe es nicht, wann es möglich sei, solche verlangte Bewilligungen auch einzuholen.
Eine Woche ohne Stellvertretung
Erfahren, dass es mit der Ferienvertretung nicht klappt, hat das Team des Ärztezentrums im Chilefeld eine Woche vor dessen Ferienbeginn. Schnell kam die Anfrage an Verena Gantner, ob sie einspringen könne. Aber Gantner ist auch im Pensionsalter engagiert, war letzte Woche an einem Ärztekongress in Arosa, arbeitet beispielsweise bei «Hausärzte für Tadschikistan» mit, hilft die Interprofessionelle Hausarztpraxis Muri Plus mit aufzubauen, will sich Zeit nehmen für die Enkel. In der ersten Ferienwoche von Georg Pfisterer fehlte die Stellvertretung, jetzt übernimmt sie Gantner teilweise.
Das hatte und hat Folgen für die Patientinnen und Patienten. «Viele haben kein Verständnis, wenn sie an die Notfallpraxis weitergewiesen werden oder ihre Termine verschoben werden», weiss Gantner. Nicht selten würden am Telefon unfreundliche Worte fallen. «Wir verstehen diesen Ärger und ärgern uns mit.» Auch darüber, dass verschobene Termine zu einem noch volleren Terminplan führen, wenn Georg Pfisterer aus den Ferien zurück ist. «Man muss wissen, wir sind im Normalzustand schon im Überlebensmodus und müssen täglich Patienten an die Notfallpraxis verweisen.» Dort, wo die Behandlung viel teurer ist, mit Folgen für Patienten und Krankenkassen. Und dort, wo auch Überlastung droht, wenn es im gleichen Stil weitergeht.
Heime ohne direkte ärztliche Betreuung
Massiv betroffen sind auch Heime. In diesem konkreten Beispiel betreut Georg Pfisterer das Maria-Bernarda-Heim in Auw, das Roth-Haus in Muri, das St.Martin in Muri und einige Bewohnerinnen und Bewohner des Solino in Boswil. «Das braucht viel Zeit und das kann ich einfach nicht auch noch übernehmen», sagt Verena Gantner. Die Heime bleiben also während der Ferienabwesenheit ohne direkte ärztliche Betreuung, müssen auf mobile Ärzte hoffen oder die Notfallpraxis aufsuchen.
Das Ärztezentrum im Chilefeld in Muri ist nicht als einziges im Freiamt betroffen. Die Praxisgemeinschaft Villmergen musste im Februar auf genau die gleiche Situation reagieren. Dabei hat Roli Schumacher, selbst im Pensionsalter und noch immer praktizierender Arzt, auch Kontakt mit dem Departement Gesundheit und Soziales aufgenommen. Es ist ihm wichtig zu betonen: «Jean-Pierre Gallati hat postwendend auf meine Eingabe reagiert und uns seine volle Unterstützung so schnell wie möglich zugesagt. Als Hausarzt freue ich mich sehr über diese Unterstützung seitens des Gesundheitsdirektors.» Er betont, wie wichtig diese Ferienvertretung durch Assistenzärztinnen und -ärzte des Spitals Muri für das Funktionieren der Grundversorgung im Freiamt sei. Aus einem Verantwortungsbewusstsein heraus – auch Verena Gantner spricht dieses an – würden Ärzte oft überdurchschnittlich viel und weit über das Pensionsalter hinaus arbeiten. «Für sie ist die Möglichkeit, Ferien zu machen, während zu Hause in der Praxis kompetent die alltäglich anfallenden Probleme bewältigt werden können, unabdingbar wichtig», ist Schumacher überzeugt.
Ohne diese Möglichkeit sei mit einem überstürzten Beenden der einen oder anderen Praxistätigkeit zu rechnen. «Die Abkehr vom bisherigen System mag zwar gesetzeskonform sein. Für die hausärztliche Grundversorgung im Freiamt wäre sie fatal und in manchen Fällen leider ruinös.»
Tiefste Hausarztdichte
Dass die personelle Situation in der Gesundheitsbranche angespannt ist, ist nicht neu und verschärft sich zudem laufend weiter. Kommt hinzu, dass der Kanton Aargau die tiefste Hausarztdichte im Land hat und der Bezirk Muri die tiefste im Kanton Aargau. «Dass uns in einer solchen Situation nochmals Steine in den Weg gelegt werden, dafür fehlt mir jegliches Verständnis», spricht Verena Gantner Klartext. «Es kann nicht sein, dass Gesetzesparagraphen dazu eingesetzt werden, real bestens funktionierende Abläufe zu verhindern», sagt Roli Schumacher. Die Hoffnung bleibe, dass die Vernunft siegt.
In der Zwischenzeit Lösung gefunden
Seit dem 12. Januar 2010 seien Ferienvertretungen sowie generell Stellvertretungen bewilligungspflichtig. So hält es Michel Hassler, Leiter Kommunikation des Departements Gesundheit und Soziales des Kantons Aargau, auf Anfrage fest. Warum wurde die Umsetzung denn erst jetzt überprüft? «Im Rahmen einer Anfrage hat die Abteilung Gesundheit das Spital Muri in diesem Jahr über die korrekte Umsetzung der Bewilligungspflicht informiert», antwortet Hassler auf diese Frage. Erst im Rahmen dieser Anfrage habe man festgestellt, dass dies bisher nicht überall einheitlich nach Gesetz gehandhabt wurde. Grundsätzlich handle es sich bei der Bewilligung für Stellvertretung um einen bewährten Prozess, der gut und in nützlicher Frist funktioniere. Es müsse auch kein neues Formular entwickelt werden, dieses sei vorhanden und stehe zur Verwendung bereit. Und trotzdem sagt Hassler: «In der Zwischenzeit wurde eine praktikable und gesetzesmässige Lösung gefunden. Diese wird den Betroffenen in Kürze kommuniziert.» Ob er verstehen könne, dass die aktuelle Situation bei den betroffenen Ärztinnen und Ärzten zu Unmut führe? Hasslers Antwort: «Die seit 2010 geltende Rechtslage verlangt eine Stellvertretungsbewilligung. Ausnahmen können nur dort gemacht werden, wo das Gesetz oder die Verordnung eine solche zulässt.»
Kanton hilft mit – etwa beim Pilotprojekt in Muri
Dass der Bezirk Muri die tiefste Hausarztdichte im Kanton hat, das hält auch der Leiter Kommunikation des Departements Gesundheit und Soziales fest. «Die Hausarztdichte ist für die Sicherstellung der medizinischen Grundversorgung wichtig», betont er. Das Departement versuche mitzuhelfen, etwas gegen diese Situation zu unternehmen. Beispielsweise unterstützt der Kanton das Pilotprojekt «Interprofessionelle Hausarztpraxis Muri Plus» finanziell. --ake