Der Erste ist vorerst der Letzte
20.08.2024 Niederwil, Region UnterfreiamtWeindegustation des Hambelers 2023
Auf der Suche nach einer sinnvollen Aufgabe für ihre Zeit in Rente haben vier «Jungwinzer im besten Alter» für sich eine Punktlandung getroffen. Am Samstag, 17. August, präsentierten sie ihren ersten Biowein aus ...
Weindegustation des Hambelers 2023
Auf der Suche nach einer sinnvollen Aufgabe für ihre Zeit in Rente haben vier «Jungwinzer im besten Alter» für sich eine Punktlandung getroffen. Am Samstag, 17. August, präsentierten sie ihren ersten Biowein aus Niederwil. Nach weit über 150 Jahren kann man wieder Wein aus dieser Region geniessen.
Britta Müller
Stolz stehen sie an ihrem Weinberg, dem Hambel in der Karrenwaldstrasse in Niederwil: Walter «Wädi» Koch, Hugo Gratwohl, Pius Meier und Kurt Heimberg. Entstanden ist die Idee, nachdem die einstigen Schulkameraden nach einer Beerdigung eines gemeinsamen Kollegen zusammensassen, alle kurz vor der Pension standen und sich dieselbe Frage stellten: Was kommt jetzt? Wandern, Jassen, Rasenmähen und fein Essen gehen ist schön, aber auf Dauer braucht es eine bereichernde und erfüllende Aufgabe, bei der man gefordert ist und vielleicht nochmals richtig durchstarten kann.
Das Ergebnis ihres Vorhabens ist beeindruckend und in nun 960 Flaschen abgefüllt. 75 cl Biowein mit 13 % Alkoholgehalt befindet sich in einer schlicht-eleganten dunklen Weinflasche. Edel sieht das schwarze Weinetikett mit goldener Schrift und Verzierung aus. Darauf vier Streifen, die nicht, wie vielleicht beschwipste Stimmen behaupten, die Stromleitungen über dem Weinberg darstellen, sondern für die vier Initianten stehen. Mittig das Niederwiler Wappen über dem Weinnamen «Hambeler» – vom Südwesthang des «Hambels» in Niederwil. Auf der Rückseite wird der Flascheninhalt beschrieben. Es handelt sich um die rote Rebsorte Divico, die aus den Sorten Bronner und Gamaret stammt und besonders als pilzresistent gilt. Mit diesem Produkt reiht sich Niederwil stolz in die rund 70 Weinbaudörfer mit seinen 600 Winzerinnen und Winzern des Aargaus ein.
Ehrgeiz, Willen, Disziplin und das Wetter
Von der Kirchgemeinde stammt die Parzelle – vor vier Jahren war da noch Wiese. Seit über 150 Jahren wächst nun hier wieder ein Niederwiler Wein. Dass das so ist, verdankt das Dorf nicht nur dem Ehrgeiz, Willen und Disziplin der Hobbywinzer, sondern auch dem Weinbauzentrum in Wädenswil und der Kellerei «Buchmann Weine» aus Wittnau. Von ihnen kamen die Ausbildung und das Wissen rund um den Bio-Weinanbau sowie der Pflege übers ganze Jahr für eine erfolgreiche Ernte. Aber bei allem Lerneifer, Fürsorge und Tatkraft – am Ende spielt für die vier Herren noch eine weitere Instanz eine elementare Rolle: das Wetter.
2023 war ein sonniges, gutes Weinjahr, 2024 dagegen stand leider unter keinem guten Stern für den Weinanbau. Das Frühjahr war zu kalt und frostig – die Wetter-App wurde zum ständigen Begleiter der Hobbywinzer. «Wir waren allzeit mit den Feuerkörben bereit, um die Reben vor dem Frost mit Wärme zu schützen», erklärt «Wädi» Koch. Aber durch den vielen Regen, der sich in den umliegenden Feldern sammelte und durch die teils sehr kalten Temperaturen auch noch gefror, sorgte dies für zu kalte Temperaturen, was den zarten Weintrieben zusetzte. Wenn man heute an einem Abendspaziergang am Weinberg vorbeiläuft, kann man es selbst als Laie sehr gut erkennen: Die Früchte tragen nur vereinzelt ein paar kleine Weinbeeren. «Da lässt sich nichts mehr ernten», erklärt Kurt Heimberg traurig dem Landammann Markus Dieth. Dieser versucht zu trösten und erklärt zuversichtlich, dass das Wetter das grosse Leid eines jeden Landwirts ist, man immer jedes Jahr bei null anfängt und somit auch eine neue Chance erhält.
Auf Aargauer Weine setzen
«Fruchtig, beerig, mit wenig Säure, vollmundig und einem feinen Abgang» beschreibt Walter «Wädi» Koch, einst Gemeindeammann in Niederwil, Schulleiter in Jonen und nun Neu-Winzer, den Wein. Gemeinsam mit seinen drei Freunden Hugo Gratwohl, Pius Meier und Kurt Heimberg präsentiert er ihre Ernte aus 2023 den Niederwilern, inklusive Gemeindevertreter und Gäste auch aus dem Umland. Landammann Markus Dieth und sogar der Direktor des Schweizer Bier-Brauerei-Verbands Marcel Kreber haben sich auf den Weg gemacht, nicht nur den neuen Aargauer Tropfen zu verkosten, sondern das aussergewöhnliche Projekt der vier tatkräftigen Macher zu ehren. «Der erste Wein aus 2023 ist wohl leider vorerst auch der letzte», sagt Landammann Markus Dieth mit einem Augenzwinkern und verstreut sofort Zuversicht, dass es spätestens 2026 mit dem Wein aus 2025 wieder Hambeler geben wird. Er freut sich mit den vier Bio-Winzern und macht tatkräftig Werbung für die Aargauer Weine. «Aus dem Aargau wird nur ganz wenig Wein exportiert – wir trinken ihn lieber selbst», lacht Landammann Dieth und fordert die Gäste dazu auf, ab sofort bevorzugt in Restaurants zu speisen, die auf der Weinkarte Aargauer Weine haben, und damit die regionalen Weinbauern zu unterstützen.
Unter den zahlreichen Niederwilern stehen Peter Kühne und Roland Stuker aus Nesselnbach und geniessen zum ersten Mal den neuen Tropfen. «Am Anfang schmeckt er ein bisschen herb, aber dann ist er sehr süffig», erklären sie und freuen sich über den Erfolg ihres Freundes Hugo Gratwohl. Auch das Ehepaar Othmar und Bernadette Stöckli aus Niederwil geniessen den rubinroten Weinrebensaft, können sich aber nicht entscheiden, «sind es Himbeeren oder eher Brombeeren, die wir da schmecken?» Am Ende ist es die Bezeichnung «beerig», auf die sie sich einigen.
Eine Art Kulturgut
«Wädi» Koch berichtet, dass kürzlich vom Restaurant Gnadenthal der Küchenchef, Weinhändler und Direktor zu einer Degustation vorbeikamen. Nachdem diese den neuen Wein verkostet haben, beschlossen sie spontan: «Wir kaufen den ganzen Weinberg – also alle Flaschen – ab.» Das freut und bestätigt sicherlich die vier Hobbywinzer mit ihrem Tun, aber stand gegen deren Vision. «Wädi» Koch erklärt dazu: «Mit unserem Wein wollen wir den Niederwilern ein Stück ihrer Regionalität bieten – fast wie eine Art Kulturgut zurückgeben, worauf sie stolz sein können.» Der Verkauf aller Weinflaschen an ein Restaurant wäre gegen diese Vision gewesen. Somit lehnten die vier Winzer das lukrative Angebot freundlich ab, aber fanden diplomatisch eine gute Lösung, dass auch das Restaurant Gnadenthal Niederwiler Wein auf der Getränkekarte exklusiv anbieten kann. Die Niederwiler danken sicherlich für diese Entscheidung, denn es liess sich gut beobachten: Jeder, der sich zum Anlass auf dem Weg zum neuen Wein gemacht hat, hatte auch die Absicht, diesen mit nach Hause zu nehmen, was sie auch mit einem, zwei und sogar manch einer mit mehr Kartons umsetzten.
Sicherlich haben an diesem Nachmittag auch «Wädi» Koch, Hugo Gratwohl, Pius Meier und Kurz Heimberg mit dem edlen Tropfen auf den einstigen Kollegen angestossen. So traurig der Anlass des damaligen Wiedersehens auch war, am Ende gab der Verstorbene auf gewisse Art und Weise diesen vier Freunden den Anstoss dazu, gemeinsam eine bereichernde und sinnvolle Idee für ihren nächsten Lebensabschnitt zu verfolgen.