Das Schöne überwiegt
31.12.2024 SportMenschen mit einem besonderen Jahr: Das Jahr 2024 der Olympionikin Michelle Andres
Das Jahr 2024 war für die Hägglingerin Michelle Andres das erfolgreichste ihrer Karriere. Und das nicht nur wegen ihrer Olympia-Teilnahme in Paris. Doch die letzten zwölf ...
Menschen mit einem besonderen Jahr: Das Jahr 2024 der Olympionikin Michelle Andres
Das Jahr 2024 war für die Hägglingerin Michelle Andres das erfolgreichste ihrer Karriere. Und das nicht nur wegen ihrer Olympia-Teilnahme in Paris. Doch die letzten zwölf Monate hatten auch ihre Schattenseiten für die 27-Jährige.
Josip Lasic
Gleich nach den Olympischen Spielen in Paris gab sich Michelle Andres kämpferisch. «Ich habe noch eine Rechnung mit den Olympischen Spielen offen. Es ist zwar noch sehr früh, aber ich habe doch das Gefühl, dass ich wieder teilnehmen und etwas richtigstellen muss», sagte sie gegenüber dieser Zeitung. Ein Leben lang war Olympia ihr Traum und dann verläuft die Teilnahme so unglücklich für die Hägglingerin. Sieben Runden sind erst gefahren im Madison-Wettkampf, als die Britin Neah Evans Andres überholen will. Sie zieht der Hägglingerin bei diesem Manöver das Vorderrad weg. Andres und ihre Teamkollegin Aline Seitz stürzen, kommen aus dem Rhythmus und versuchen trotzdem, sich irgendwie zurückzukämpfen. Am Ende bleiben sie ohne Punkte und beenden das Rennen auf dem 14. von 15 Rängen. Kein Wunder, dass die 27-Jährige kurz darauf bereits Olympia 2028 in Los Angeles im Kopf hat und wieder angreifen will.
Doch der Kampfgeist der Olympionikin erleidet anschliessend einen Dämpfer. Die Freiämterin fällt in ein Loch. «Durch den Sturz hatte ich noch länger Schmerzen und eine Entzündung am Bein. Deshalb konnte ich nicht wie geplant im Oktober und November in die Ferien, was mich vielleicht auf andere Gedanken gebracht hätte. So hatte ich den Eindruck, dass der grosse Höhepunkt meiner Karriere durch ist, und konnte mich kaum noch zum Trainieren aufraffen.» Noch schlimmer wurde es für die Radsportlerin nach den Weltmeisterschaften in Kopenhagen. Sie belegt sowohl im Ausscheidungsfahren als auch im Madison (gemeinsam mit Aline Seitz) Rang 12. «Es ging echt alles in die Hose. Da habe ich angefangen, alles zu hinterfragen.»
Suche nach Leben abseits des Radsports
Für Andres war es schwer, nach den Olympischen Spielen wieder in ihren Trainingsalltag zurückzufinden. «Ich hatte lange Zeit kein Leben neben den Olympischen Spielen. Es war auch eine spannende Erfahrung, sich so intensiv auf etwas zu fokussieren. Dann arbeite ich so lange auf dieses Ziel hin und nach sieben Runden ist schon alles vorbei. Was mich aber besonders verwirrt hat, war das Gefühl, dass ich mich mit dem Sturz auf der grössten Bühne der Welt blamiert habe und das gar keine Konsequenzen hatte. Die Welt dreht sich weiter. Zuvor war mir jedes kleine Rennen enorm wichtig. Jetzt ist das nicht mehr so. Einerseits ist das befreiend. Andererseits schien mir vieles egal zu werden.»
Der Freiämterin ist klar, dass viele Menschen ein Tief erleben, nachdem sie ein grösseres Projekt abgeschlossen haben. «Ich muss mich daran gewöhnen, dass ich aktuell kein grosses Ziel habe, das ich verfolge. Aber das war vier Jahre vor den Olympischen Spielen in Paris nicht anders.» Die Olympionikin hat sich Hobbys gesucht, die nichts mit dem Radsport zu tun haben. «Das hat mir vor Paris zwar nicht gefehlt, aber gleichzeitig bin ich froh, dass ich auch ein Leben neben dem Velo habe. Ich habe mir auch eine berufliche Tätigkeit gesucht, wo ich etwas tun kann, was nichts mit dem Radsport zusammenhängt. Ausserdem bin ich eine kleine Leseratte geworden. Daneben unternehme ich viel mit Freunden und ich koche auch sehr gerne. Es geht nicht mehr nur drum, dass ich Kohlenhydrate und Proteine zu mir nehme, um Energie zu haben. Ich verbringe mehrere Stunden in der Küche. Jetzt bin ich gespannt, wie weit mich diese Einstellung bringt und ob mir die Abwechslung im Alltag im Radsport nützt.» Es scheint allerdings die ersten Früchte zu tragen. Die Tatsache, dass sie an den Olympischen Spielen teilgenommen hat und ihr neues Leben neben dem Sport haben ihr eine gewisse Ruhe gegeben. «Es gab bei uns im Verband jetzt einige Rücktritte. Unter sechs Athleten war nur eine Person dabei, die mal an Olympia teilgenommen hat. Jetzt, mit etwas Distanz, wird mir bewusst, dass ich etwas erreicht habe, was für viele Sportler ein Ziel ist, aber wenige schaffen. Ich habe lang das Gefühl, ob Olympia ein Erfolg ist oder nicht, an das Resultat geknüpft. Dabei ist eine Teilnahme schon so exklusiv, dass das bereits ein grosser Erfolg ist.»
Der Druck ist kleiner geworden
Vor einigen Wochen startete Andres wieder mit dem Verbandstraining in Grenchen. Die Vorbereitungen für Olympia in Los Angeles haben bereits begonnen. Die Schweiz will eine Equipe in der Teamverfolgung der Frauen aufbauen. Andres kämpft um einen der vier Plätze dort und um einen der beiden im Madison. «Vorschusslorbeeren gibt es keine, obwohl ich jetzt dabei war», sagt sie lachend. «Aber ich spüre, dass das Feuer noch brennt. Auch wenn ich gedanklich noch nicht in Los Angeles bin.» Und eine Teilnahme dort sieht sie auch nicht als Muss an. «Vor Paris hätte ich gesagt, dass mir in meiner sportlichen Karriere etwas fehlen würde, wenn ich nie bei Olympia dabei gewesen wäre. Jetzt habe ich es erreicht teilzunehmen und fühle mich nicht mehr so unter Druck. Aber eine Teilnahme in Los Angeles wäre trotzdem ein schöner Bonus.» Trotz schwieriger Phase nach den Olympischen Spielen findet das Jahr für Michelle Andres einen guten Abschluss. «Ich habe die Schweizer Meisterschaft im Omnium und im Punktefahren geholt, viele weitere Erfolge feiern können und ein schönes Trainingslager erlebt. Es war mein erfolgreichstes Jahr. Die schönen Dinge überwiegen vor den negativen.»