Ins Glück zurückgekämpft

  01.12.2023 Kelleramt

Ein Tag verändert alles

Der Tod stellt die Welt auf den Kopf, verändert das Leben von Hinterbliebenen. Wenn es Suizid war, kommen noch schwerwiegende Emotionen hinzu. Die 37-jährige Melanie Zihlmann und ihre zwei jungen Kinder erlebten ein solches Schicksal. Wie man damit umgeht, beschreibt sie in ihrem Buch «Suizid – Papi ist jetzt ein Stern am Himmel». --cbl


Die Kellerämterin Melanie Zihlmann hat ein Buch über den Suizid ihres Mannes geschrieben

Der Tod hinterlässt absolute Leere. Wenn es Selbsttötung ist, löst er zudem besonders schmerzhafte Gefühle aus. Sind ausserdem Kinder involviert, wird alles noch komplexer. Melanie Zihlmann hat diese schwierige Zeit erlebt – und fand trotzdem zum Glück zurück. Wie sie das gemeistert hat, beschreibt sie in ihrem Buch «Suizid – Papi ist jetzt ein Stern am Himmel.»

Celeste Blanc

Dort, wo der Papi jetzt ist, braucht er seinen Körper nicht mehr. Er ist nun im Himmel. Liegt vielleicht gerade auf einer Wolke und schaut auf die Erde runter, was seine Kinder so treiben. Leuchtet für sie als Stern in der dunklen Nacht. Oder ist ein Spatz auf dem Baum, der vergnügt zwitschert, wenn sie vorbeigehen.

Die Vorstellungen vom Leben nach dem Tod der Kinder von Melanie Zihlmann berühren. Obwohl sie sehr früh in ihrem Leben mit einem grossen Verlust konfrontiert waren, können ihre heute fünfjährige Tochter und ihr siebenjähriger Sohn mit Akzeptanz über das Erlebte sprechen: Ihr Papi hat sich vor zwei Jahren «selber totgemacht». Er hat Suizid begangen.

Die Welt bricht zusammen

Der Tod ist immer ein einschneidendes Erlebnis. Er hinterlässt eine Lücke. Und er hinterlässt Fragen, auf die es nicht immer eine Antwort gibt. War es Suizid, ist es für Hinterbliebene besonders schmerzhaft. Oftmals geht der Gedanke damit einher, wie es so weit kommen konnte. Hätte ich es wissen müssen?

Anders war das bei Melanie Zihlmann. Nicht Fragen quälten die Witwe, sondern kaum erträgliche Schuldgefühle. Hinzu kamen Trauer, Wut und Verzweif lung, die zum Wechselbad der Gefühle wurden. «Diese schweren Emotionen sind zermürbend. Es gibt Momente, in denen ich mich fragte, wie ich das überstehen kann.» Doch sich den Gefühlen hingeben war keine Option. Schliesslich waren da ihre Kinder, dreieinhalb und fünf Jahre jung, die ihren Vater verloren hatten. «Für sie wollte ich stark sein.»

Auch wenn für die Mutter ihre Kinder immer an erster Stelle stehen, war direkt nach der Tat die Schnittstelle zwischen ihrem Beistehen und der eigenen Überforderung nicht einfach. Wie erkläre ich meinen Kindern, dass ihr Vater gestorben ist – dass er sich selbst das Leben nahm? «Ich wusste nicht, was ich tun und sagen sollte. In den ersten Tagen nach der Tat war ich wie in einer Art Schockstarre.» Glücklicherweise hatte die Familie ein unterstützendes Umfeld, das ihnen Halt gab. Zudem  organisierte eine gute Freundin von Zihlmann die Trauerbegleiterin Katharina Keel aus Wohlen. Rückblickend eine wichtige Säule im Trauerprozess: «Sie nahm mir das ab, was ich im ersten Augenblick nicht konnte: Auf liebevolle Weise meine Kinder an das Thema Tod heranführen und ihnen erklären, was mit dem Körper geschieht, wenn man stirbt.» Der Mutter fiel eine Last von den Schultern. Ein Segen in dieser schweren Zeit.

Die letzten Worte

16 Jahre waren Melanie Zihlmann und ihr Mann ein Paar gewesen. Sie verliebten sich. Sie heirateten. Es war die grosse Liebe. Mit Hochs und Tiefs, wie es sie in jeder Beziehung gibt. Doch über dem Lebensgefährten schwebte eine dunkle Wolke: Seit jeher hatte er mit psychischen Problemen zu kämpfen. «Viele Jahre machte mir das nichts aus. Während für ihn das Glas halb leer war, war es für mich halb voll», blickt sie zurück. «Ich habe immer die Kraft gefunden, ihn zu unterstützen.»

Er sei ein guter Vater gewesen, der seine Kinder liebte. Doch irgendwann machten seine schlechten Phasen keinen Halt mehr vor der Familie. Das war der Moment für Melanie Zihlmann, ihren Mann zu verlassen. «Trotz der Liebe hatte ich eine Verantwortung gegenüber meinen Kindern. Ihren Vater so zu sehen und zu erleben, das war nicht gut für sie.»

Die Trennung war schliesslich der Ausschlag für den Suizid ihres Mannes gewesen. Das eröffnete er ihr in einem Abschiedsbrief, den er ihr hinterliess. Für Zihlmann das Schlimmste, was sie je erlebt hat. Nebst den eigenen Schuldgefühlen, die sie fortan quälten, kamen bald darauf auch Wut und Unverständnis hinzu. «Immer wieder fragte ich mich: Wie konnte er das seinen Kindern bloss antun?»

Ein Perspektivenwechsel kann helfen

Es brauchte viel Zeit, diese Emotionen zu verarbeiten. Wichtig war es für die Betroffene, sich nicht von den Gefühlen erdrücken zu lassen. «Vor allem, was die Schuldgefühle betrifft, kann man Gefahr laufen, in ein Loch zu fallen», weiss sie. Sie schaffte es, das Gefühl, verantwortlich für den Suizid ihres Mannes zu sein, zu überwinden. Sie arbeitete daran, die Perspektive zu wechseln. In Frieden mit seiner Entscheidung zu leben, anstatt in Verbitterung zu enden. Dank Mitgefühl und Verständnis für sein Leiden schaffte sie es, ihm zu verzeihen. Ein notwendiger Schritt für die junge Frau: «Ich wollte ihn nicht bis an mein Lebensende dafür hassen, was er uns angetan hat.»

Was nicht immer gelingt, ist der Umgang mit der Wut. Das merkt sie vor allem bei den grossen Momenten im Leben ihrer Kinder. Der erste Tag im Kindergarten. Die erste Theateraufführung. Dann, wenn andere Kinder ihren Vater an der Seite haben und die zwei Geschwister eben nicht. «Es tut mir weh, zu sehen, dass meine Kinder traurig sind. Dann kommt alles wieder hoch. Ob ich es jemals ganz ablegen kann, ist schwer zu sagen.»

Der Tod gehört zum Leben

Vieles hat sich im Leben der jungen Frau seit dem Erlebten verändert. Zihlmann hat gelernt, sich weniger Druck zu machen und einen Schritt nach dem anderen zu gehen. «Ich lebe viel mehr im Moment, als ich es vor seinem Suizid tat. Die Prioritäten haben sich verschoben.» Was vorher wichtig war, hat heute keine Bedeutung mehr. Worauf man früher zu wenig geachtet hat, ist heute ein wichtiger Teil des Alltags. «Die Selbstfürsorge würde ich nicht mehr missen wollen. Sich selbst Inseln zu schaffen, das Leben bewusst wahrzunehmen und sich auch Verschnaufpausen zu gönnen, ist so wichtig. Schliesslich kann sich das Leben von einem Tag auf den anderen verändern und ein ganz anderes sein.» Auch ist sie rückblickend froh, dass ihre Freundin ihr die Trauerbegleitung organisierte. Diese Unterstützung half der Mutter, wegweisende Entscheidungen zu treffen, die sie so in ihrer Trauer nicht getroffen hätte. Beispielsweise bei der Frage, ob ihre Kinder noch einmal ihren Vater sehen durften. «Eigentlich wollte ich das nicht. Ich wollte ihnen den Anblick und damit eine erneute Traumatisierung ersparen.» Nach dem ersten Gespräch mit Katharina Keel realisierte Zihlmann jedoch, wie wichtig dieser Moment bei der Verarbeitung der Trauer war. «Vor allem meine Tochter, die damals drei Jahre alt war, meinte immer, der Papi komme wieder. Er sei jetzt nur gerade bei Oma.» Erst als sie den Vater sah, realisierte sie, dass er gestorben war. Und nicht mehr zurückkommen würde.

Kinder beim Tod eines Elternteils aussen vor zu lassen, sei der falsche Weg, so Zihlmann. Man sollte sie, wenn immer möglich, miteinbeziehen
– auch bei einem Suizid. Und es sei wichtig, den Kindern die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie nicht jedes Detail dieser Wahrheit wissen müssen. So wissen Zihlmanns Kinder, dass der Papi sich selbst «totgemacht» hat, weil ihn eine Krankheit dazu brachte. In ihrem Trauerprozess half es den Kindern zudem, bei der Gestaltung der Beerdigung involviert zu sein: Sie verzierten eine Kerze, die in der Kirche angezündet wurde und malten Zeichnungen, die der Steinmetz in den Grabstein meisselte. Dank diesem Umgang ist es ihnen heute möglich, offen über ihren Vater, seinen Suizid und den Tod allgemein zu sprechen.

Suizid endlich enttabuisieren

All diese Gefühle, Fragen, Herausforderungen und Erfahrungen, die Melanie Zihlmann und ihre Familie durchlebt haben, hat die Kellerämterin während der Trauerphase zu Papier gebracht. Das Buch «Suizid – Papi ist jetzt ein Stern am Himmel» habe ihr geholfen, das Erlebte zu verarbeiten und damit etwas geschaffen, was sie selber in ihrer Situation gebraucht hätte. «Ich hätte mir gewünscht, ein solches Buch einer betroffenen Person in den Händen zu halten, die mir sagt, ob es mit diesen Schuldgefühlen jemals besser wird und wie ich meine Kinder durch diese furchtbare Zeit führen kann.» Seit April vertreibt Zihlmann das Buch über ihre Homepage. Die Resonanz ist unglaublich. Das Schönste sei, dass sich Menschen zurückmelden, denen das Buch Halt gibt. «Mir sagte jemand, dass ich ihr aus der Seele spreche. Es fühle sich an, als sei es ihre Geschichte.» Auch soll das Buch einen Beitrag dazu leisten, Hemmungen vor dem Thema Suizid und falscher Scheu im Umgang mit den Hinterbliebenen vorzubeugen. Denn mehr Menschen, als man annehmen würde, nehmen sich das Leben. «Aber Verschweigen und Wegsehen machen das Problem nicht ungeschehen», so Zihlmann. Vielmehr manifestiert es die Tabuisierung des Themas Suizid.

So empfiehlt sich das Buch jenen, die eine betroffene Person kennen. Die Todesursache überfordere oft und man wisse nicht, wie man darauf reagieren solle. «Doch jede Reaktion ist besser als gar keine Reaktion», weiss die junge Frau. Auch ohne grosse Worte kann man Anteil nehmen. So genügt bereits ein «Es tut mir leid, ich weiss nicht, was ich sagen soll». Weiter enthält das Buch Tipps, wie am besten Unterstützung geboten werden kann. Melanie Zihlmann: «Direkte Hilfe anzubieten, hilft wirklich sehr.» Floskeln wie «Melde dich, wenn du etwas brauchst» seien hingegen weniger hilfreich.

Neue, positive Erinnerungen schaffen

Es war ein schicksalhafter Tag im Winter 2021. Kummer, Wut und der Verlust eines Menschen, der nicht ersetzt werden kann, prägten das Leben der jungen Familie. «Nachdem das Schicksal auf so brutale Weise zugeschlagen hatte, gab es nur zwei Möglichkeiten: aufstehen und weitermachen oder untergehen.» Und Melanie Zihlmann und ihre Kinder schafften es, sich zurück in den Alltag zu kämpfen. Sich neue, positive Erinnerungen zu schaffen und ein Leben zu führen, in dem man wieder glücklich sein kann. Sie haben gelernt, dass der Tod zum Leben gehört.

Weitere Informationen zum Buch «Suizid – Papi ist jetzt ein Stern am Himmel» auf www.suizidhinterblieben.ch. Auch auf Instagram ist Melanie Zihlmann aktiv (melanie.zihlmann).


Trauerbegleitung für Kinder

Melanie Zihlmann engagiert sich seit ihrem Schicksalsschlag als Vizepräsidentin des Vereins «familientrauerbegleitung.ch». Der Verein ermöglicht es Menschen, die durch einen Todesfall in Not geraten sind, qualifiziert begleitet zu werden. Auch ist Zihlmann Mitglied des Vereins «Aurora». Die Kontaktstelle für Verwitwete mit minderjährigen Kindern ist eine Gemeinschaft, deren Mitglieder einander unterstützen, begleiten und gegenseitig beraten. Solche Angebote seien wertvolle Säulen im Trauerprozess. Die Zuwendung von Menschen, die das Gleiche erlebt haben, könne helfen, sich verstanden zu fühlen. «Auch heute noch sind für meine Kinder ihre Freunde aus der Kindertrauergruppe in Wohlen sowie aus dem Verein Aurora eine Bereicherung. Durch sie fühlen sie sich nicht als Exoten, sondern spüren Verbundenheit und fühlen sich nicht allein mit ihrem Schicksal», so Zihlmann.

Mehr Informationen unter: www. verein-aurora.ch und www.familientrauerbegleitung.ch --cbl


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote