32 Jahre jung, erklärt ETH-Sicherheitsforscher Benno Zogg in den Medien den Krieg in der Ukraine. In der Sommerserie «Ukrainer bei uns» erklärt Zogg, der in Widen aufgewachsen ist, was der Krieg für die Lokalpolitik bedeutet und wieso die Schweizer Politik mit der Neutralität absolut vereinbar ist. --cbl

«Schweiz macht einen guten Job»

Sommerserie «Ukrainer in der Schweiz»: ETH-Sicherheitsforscher Benno Zogg im Gespräch über den Krieg in der Ukraine

Benno Zogg forscht zu postsowjetischen Ländern am ETH Center for Security Studies. Er erklärt, warum ein baldiges Ende des Krieges nicht in Sicht ist und was für Folgen dieser für die Lokalpolitik hat.

Celeste Blanc

Die postsowjetischen Länder lagen lange Zeit nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Gemeint sind die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, beispielsweise Kasachstan, Georgien, Belarus oder die Ukraine. Anders war das bei Benno Zogg: Ebendiese «Unattraktivität der Länder», wie er es nennt, habe bei ihm das Interesse geweckt, sie zu erforschen. «Viele kannten über die Länder des ehemaligen Ostblocks hauptsächlich Klischees», so der ETH-Sicherheitsexperte und Forscher.

Der 32-Jährige, der sich auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik spezialisiert hat, zieht zwischen diesen Staaten und der Schweiz Parallelen. Denn genau wie sie ist die Schweiz in der internationalen Politik kein grosser Player, sondern wird hauptsächlich im europäischen Geflecht betrachtet. Sie betreibt aber eine eigenständige Politik, mit der sie eigene Interessen verfolgt. «So, wie es die Ukraine auch tun will und was der Grund für den russischen Angriffskrieg war.»

Mit Ausbruch des Ukraine-Krieges waren Sie plötzlich ein gefragter Experte in den nationalen Medien. Wie war diese Erfahrung für Sie?

Benno Zogg: In der angewandten Forschung ist es Teil des Jobs, den Dialog mit der Öffentlichkeit zu haben, indem man Forschungsergebnisse publiziert und Erkenntnisse durch Gastartikel und in Interviews der Öffentlichkeit unterbreitet. Somit ist mir die Medienarbeit nicht ganz fremd (lacht).

Aber Ihre Expertise war mit Ausbruch des Ukraine-Krieges plötzlich mehr gefragt?

Definitiv. Presseanfragen gab es zwar immer wieder, wenn es politische und gesellschaftliche Krisen in meinem Forschungsgebiet gab. So etwa bei den Unruhen in Belarus oder bei Krisen in der Ukraine 2014. Rund um den Kriegsausbruch Ende Februar gab es eine regelrechte «Explosion» von Anfragen.

Was war Ihre Aufgabe?

Zu Beginn ging es darum, die sich schnell abwechselnden Situationen abzuwägen und sie einzuordnen. Mittlerweile sind viele Medienanfragen spezifischer, so beispielsweise rund um die atomare Aufrüstung oder zu konkreten Gefechtshandlungen. Zu diesen Themen gebe ich aber bewusst keine Auskunft. Da fehlt mir die Expertise. Ich bin eher der Generalist und kann die Gesamtsituation und eher politische als militärische Entwicklungen einordnen.

Wo liegt die Herausforderung bei einer Einschätzung?

Als Forscher versucht man, eine möglichst vollständige Umrahmung der Situation zu machen, basierend auf Fakten und den gegebenen Informationen. Einen Konf likt ganz ohne Spekulationen einzuordnen, geht aber nicht. Es ist immer Spekulation, was beispielsweise Putins Ziele mit dem Angriffskrieg sind. Wichtig ist es deshalb, ganz klar zu kennzeichnen, was Spekulation ist und was Fakten. Schliesslich gibt es verschiedene Ebenen zu berücksichtigen: Einerseits die menschliche, denn der Krieg ist für die Bevölkerung und die Gesellschaft Realität geworden. Andererseits darf man nicht nur eine geopolitische Vogelperspektive einnehmen. Das ist nicht immer leicht, da braucht es eine Balance.

Wie beurteilen Sie die Berichterstattung? Kritische Stimmen sagen, es wird wie Corona «überthematisiert».

Die Schweizer Medienlandschaft berichtet meiner Meinung nach ausbalanciert und vernünftig über den Konf likt. Gewisse Aspekte werden aber effekthascherisch aufgebauscht.

Was zum Beispiel?

Etwa bei der Frage, ob es einen russischen Atomschlag geben wird. Dann steht in der Schlagzeile: «Russland plant atomaren Schlag», aber im Text werden Experten zitiert, die klar sagen, aus welchen Gründen ein solcher eben nicht zu erwarten ist. Damit macht man nur Putin einen Gefallen, nicht aber der Schweizer Leserschaft und schon gar nicht den Menschen in der Ukraine.

Stichwort in nationalen Debatten ist die Neutralität. Was bedeutet «Neutralität»?

Meiner Meinung nach ist diese Debatte in der Schweiz, wie viele andere, die durch den Krieg hervorgebracht wurden, längst überfällig. Die Neutralität hat im Schweizer Selbstverständnis einen hohen Stellenwert. Sie prägt die Politik und muss in Krisen thematisiert werden. Aber es gilt zwischen Neutralitäts-Recht und Neutralitäts-Politik zu unterscheiden.

Was ist der Unterschied?

Neutralitäts-Recht bedeutet, dass man keine Bündnisse eingeht und keine Kriegsseite aktiv, beispielsweise durch Waffenlieferungen, unterstützt. Es ist klar, dass das die Schweiz nicht tun wird. Somit ist Neutralität gegeben. Mehr Spielraum hingegen gibt es bei der Neutralitäts-Politik. Diese muss je nach Situation und Konflikt neu definiert werden. Sanktionen gegen Russland sind beispielsweise mit der Neutralität vereinbar, denn die Schweiz ist als Land auf die Einhaltung von Völkerrecht und der Menschenrechte angewiesen. Das politische Hauptziel der Schweiz ist es, die Sicherheit und den Wohlstand sicherzustellen. Das Ziel der Sicherheit kann nur erreicht werden, wenn diese bei den Nachbarn und auf dem ganzen Kontinent herrscht. Die Sicherheit auf dem Kontinent kann die Schweiz nicht alleine regeln.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Zum Beispiel das Schweizer Militär: Ich kann mir kaum ein Szenario vorstellen, in dem die Schweiz mit ihrer verhältnismässig kleinen Armee einen Konf likt führen kann oder einen Angriff übersteht. Sie ist auf gute nachbarschaftliche Beziehungen angewiesen. Und wir können von Glück reden, dass wir von Freunden umgeben sind. Gleichzeitig muss die Schweiz auch den Wohlstand sichern. Auch das fliesst in den Handlungsspielraum der Schweiz nach aussen ein. Die Sanktionspolitik, die wegen ihrer angeblichen «Nichtvereinbarung» mit der Neutralität kritisiert wurde, war die einzig richtige Entscheidung: Man bestraft das politische Handeln Russlands, denn es gefährdet den Frieden. Die Schweiz steht mit ihren Freunden zusammen und schützt damit ihre Handelsbeziehungen und Werte, auf denen die eigene Politik fusst.

Wie schätzen Sie die aktuelle Situation in der Ukraine ein? Was ist eine realistische Prognose, wie der Konflikt ausgehen könnte?

Realistisch scheint mir, dass der Kriegszustand Jahre andauern wird. Die Frage ist, ob es ein «heisser» oder «kalter» Krieg sein wird. Über weite Teile könnte es ein Krieg sein mit nur gelegentlichen Kampf handlungen und andauernder Unsicherheit, denn einen heissen, also aktiven, Konflikt über Jahre hinweg anzutreiben, braucht viele Ressourcen.

Welche Friedensszenarien gibt es Ihrer Meinung nach?

Ein nachhaltiger Frieden scheint momentan unvorstellbar. Schliesslich bleibt das Ziel Russlands bestehen, die Ukraine unter Kontrolle zu halten, und von dem wird es nicht so schnell abweichen. Vermutlich wird der Konflikt latent bleiben, bis eine diplomatische Lösung zwischen der Ukraine und Russland gefunden wurde. Das ist vorläufig nicht zu erwarten. Zudem müsste für einen gesamteuropäischen Frieden zuerst wieder das Vertrauen in die russische Regierung sowie eine Form von Transparenz zwischen den Staaten geschaffen werden. Auch das ist nicht zeitnah zu erwarten.

Über 50 000 geflüchtete Ukrainer sind in der Schweiz. Wie könnte sich die Situation entwickeln?

Es zeigt sich allgemein, dass ein Drittel der Geflüchteten bereits wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Grundsätzlich gibt es also eine «Rückkehrtendenz», denn anders als bei anderen Flüchtlingen suchen die Ukrainerinnen und Ukrainer nur begrenzt ein «anderes» oder «besseres Leben», sondern sie sind vor dem Krieg geflohen und die meisten wollen bei Gelegenheit zurück. Prognosen sind aber schwer, denn auch hier hängt die Entwicklung davon ab, ob und wie sich der Konflikt verschärft. Ein weiterer Faktor ist, dass das Thema Migration leider über kürzer oder länger die Meinungen spaltet.

Vermutlich werden kritische Stimmen vom «vollen Boot» laut?

Die kritischen Stimmen sind jetzt schon laut. Wichtig ist, dass die Schweiz eine Balance findet. Bisher ist die Solidarität ungebrochen und hoch. Dies resultiert sicher aus dem Umstand, dass man sich mit den Ukrainerinnen und Ukrainern «verbundener» fühlt, und das in sprachlicher, kultureller und geografischer Hinsicht. Aber vermutlich wird die Solidarität auch mal erschöpft sein.

Ist eine solche Situation für längere Zeit tragbar?

Es ist sicher herausfordernd, aber nicht überfordernd. Schliesslich handelt es sich bei der Anzahl geflüchteter Ukrainerinnen und Ukrainer um nicht mal ein Prozent der Schweizer Bevölkerung.

Vor welchen Herausforderungen steht die Lokalpolitik?

Was man längerfristig auf keinen Fall vergessen darf: Mit der Aufnahme ist es nicht getan. Es müssen Integrationsmöglichkeiten und entsprechende Lösungen für dauerhaftes Wohnen gefunden werden. Da darf man nicht illusorisch sein, es ist nicht gratis. Deshalb muss der Bund die Mittel weiterhin unbürokratisch zur Verfü- gung stellen, damit schnelles Handeln möglich ist. Die Gemeinden und die Lokalpolitik tragen die Verantwortung für die Versorgung und Integration der Menschen. Wichtig ist hier, dass man das «Lastenteilungsprinzip» versteht. Alle Ebenen, also Bund, Kanton und Gemeinden, arbeiten zusammen und jede Ebene hilft mit, die momentane Bürde zu meistern. Die Gemeinden können aber nicht erwarten, dass der Bund sofort jede ihrer Leistungen honoriert und entgilt. Handkehrum müssen Bund und Kantone für eine ausreichende Lastenverteilung unter den Gemeinden sorgen. Die «Unbürokratie» hilft hier sehr. Und dass die Bevölkerung sich aus eigener Motivation heraus mobilisiert und Ressourcen wie Güter und Wohnraum zur Verfügung stellt, entlastet die Gemeinden sicher ungemein.

Die Schweiz macht also einen guten Job?

Was ich vor allem auf der Lokalebene beeindruckend finde, ist, dass vieles schnell funktioniert hat. Es ist spannend, zu sehen, wie die Mühlen, die sonst so langsam mahlen, dies plötzlich schneller können. Es ist beispiellos, wie schnell Gelder zur Verfügung gestellt wurden auf allen Ebenen, um die Integration und die Sprache zu fördern. Es ist also doch möglich, schnell und unbürokratisch zu handeln. Es ist zu hoffen, dass die Gesellschaft daraus eine Lehre für künftige Krisen ziehen wird.

Wie können mögliche Langzeitentwicklungen aussehen?

Ich denke, je länger je mehr werden sich gewisse Faktoren angleichen. Momentan gibt es noch ein Unverhältnis, denn grössere Gemeinden und Städte haben mehr zu bewältigen als viele kleine, ländliche Dörfer. Das dürfte sich ausbalancieren. So werden sich die Gef lüchteten, die sesshaft bleiben möchten, vermutlich vermehrt in den ländlichen Gebieten niederlassen. Darauf kann man sich jetzt schon einstellen. Dieses Szenario ist für den Aargau gut vorstellbar: Es ist ein ländlicher Kanton, wo es etwas mehr leerstehende Wohnungen gibt, gleichzeitig gibt es eine Nähe zu grossen Ballungsgebieten und damit einhergehend Jobangeboten.

Was fasziniert Sie am postsowjetischen Raum?

Es war das «ungelöste Problem», das mich faszinierte. Seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion besass die Region zwar keine akute, aber eine brodelnde Aktualität, die plötzlich an die Oberfläche hätte treten können. Lange waren die postsowjetischen Staaten in der Forschung unbeachtet geblieben, gar unattraktiv. Diese Nische hat mich zu einer tieferen Auseinandersetzung geleitet.

Zur Person

Benno Zogg ist 32 Jahre alt, in Widen aufgewachsen und besuchte die Kanti in Baden. Bis zum Abschluss seines Bachelorstudiums wohnte er auf dem Mutschellen. Nach dem Geschichts- und Politikstudium an der Universität Zürich absolvierte er seinen Master in Sicherheitspolitik am King’s College in London. Heute arbeitet er als Senior Researcher und Leiter eines Teams von Forschenden am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Seit 2017 ist er Co-Leiter des Programms Frieden und Sicherheit bei der Denkfabrik «foraus». Im Zuge des Kriegsausbruchs in der Ukraine schätzte Zogg für verschiedene Medien wie den «Blick», die «NZZ» und den «Tagesanzeiger» die Lage
Kriegsgebiet ein. Zudem war er Experte in Formaten des Schweizer Fernsehens, so in «10 vor 10» oder «Arena»-Ausgaben über die Ukraine. In seiner Freizeit ist Benno Zogg gern auf Reisen. --cbl

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