Das Leben für immer verändert
25.03.2022 RudolfstettenDie Gemeinde Rudolfstetten-Friedlisberg hilft zwei ukrainischen Familien, die von ihren Erfahrungen erzählen
Die Ukrainerinnen Lidia Kuschnirenko und Elena Pedorich haben nach ihrer Flucht aus dem Kriegsgebiet auf dem Friedlisberg Schutz gefunden. Unterstützt ...
Die Gemeinde Rudolfstetten-Friedlisberg hilft zwei ukrainischen Familien, die von ihren Erfahrungen erzählen
Die Ukrainerinnen Lidia Kuschnirenko und Elena Pedorich haben nach ihrer Flucht aus dem Kriegsgebiet auf dem Friedlisberg Schutz gefunden. Unterstützt werden sie von Privaten, der Frauengemeinschaft und der Gemeinde.
Celeste Blanc
«Ich bin um fünf Uhr morgens durch die Sirenen erwacht. Um acht Uhr hörten wir die ersten Bomben fallen. Abends sassen ich, mein Mann und meine Kinder im Auto und fuhren davon», erzählt die Elena Pedorich, bevor ihre Stimme wegbricht. Tränen laufen ihr über das Gesicht. Ihre Freundin, Lidia Kuschnirenko, weint ebenfalls.
Das war vor knapp einem Monat. Seither hat sich ihr Leben für immer verändert. Wegen des Krieges mussten sie ihre Heimat verlassen. Auf der Suche nach Sicherheit erlebten sie Todesangst, Zerstörung und Gefechte. Vor knapp zwei Wochen haben die beiden Frauen mit ihren Kindern Schutz bei ihrer Freundin Julia Malakhivska auf dem Friedlisberg gefunden. Sie hilft den Frauen, sich auf dem Mutschellen zurechtzufinden, in ihrem Alltag Kontakte zu knüpfen und dolmetscht bei jeder Gelegenheit. So auch an diesem Morgen, an welchem die beiden Frauen über ihr Erlebtes sprechen wollen.
Männer dürfen nicht ausreisen
Während sich ihre Freundinnen versuchen zu fangen, erzählt Julia Malakhivska. Darüber, wie sie selbst kein Auge zumachen kann, weil sie nicht weiss, wie es ihrem Bruder und den Verwandten geht. Auch Malakhivska ist aus der Ukraine. Sie ist mit ihrer Tochter vor dreieinhalb Jahren der Liebe wegen in die Schweiz gekommen. «Es bricht mir das Herz, die Region rund um Kiew so zu sehen.» Lange lebte sie in der Hauptstadt. Für sie ist die Stadt ihre alte Heimat. Und wie für viele wird die Welt nach dem 24. Februar nicht mehr die gleiche sein. «Und ich wohne in der Schweiz. Keine Vorstellung, wie sich meine Freundinnen fühlen müssen.»
Zwischenzeitlich durchsucht Lidia Kuschnirenko ihr Handy. Sie hält den Bildschirm hoch und zeigt ein Video. Ihr Vater hat es geschickt. Darauf zu sehen sind durch Bomben zerstörte Häuser, überall liegen Trümmer auf den Strassen. Kuschnirenko kommt aus einem kleinen Dorf, rund 40Kilometer von Kiew entfernt. Die grosse, schlanke Frau erzählt, dass sie vor Kriegsausbruch ein gutes Leben hatte. «Ich hatte eine Arbeit als Krankenschwester, meine Kinder gingen zur Schule. Wir waren wirklich zufrieden.» Dass alles mit einem Schlag weg sein sollte, treibt ihr die Tränen in die Augen. Gleiches erzählt ihre Freundin Elena Pedorich. Sie lebte in einer Kleinstadt in der Gegend von Kiew. Beide Frauen kennen sich durch ihre Arbeit im Krankenhaus, wo Pedorich als Ärztin arbeitete. Während der Flucht fanden sie zusammen. Die drei Frauen fühlen stets eine grosse Ohnmacht, nicht zu wissen, wie es den Verwandten geht. Wie so viele bangt auch Elena Pedorich um ihren Mann. Er musste in der Ukraine bleiben, denn er durfte, wie alle Männer, das Land wegen seiner Wehrpflicht nicht verlassen. «Mein Mann ist in der Ukraine und leistet humanitäre Hilfe, indem er aus eigener Initiative Hilfsgüter dorthin transportiert, wo sie gebraucht werden», so Pedorich. Durch Stromausfälle und fehlendes Internet hören die drei Frauen manchmal tagelang nichts von ihren Liebsten. «Das macht einen seelisch kaputt, nicht zu wissen, was passiert», so Malakhivska
«Ist der Krieg echt?»
Es lässt einen schaudern, wenn man die Bilder und Videos sieht, die Kuschnirenko und Pedorich zeigen. Was man in den westlichen Ländern in den Nachrichten sieht, haben die beiden Mütter auf ihrer Flucht hautnah miterlebt. «Wir fuhren in einer Kolonne von Autos, die aus der Region Kiew rauswollten. Wir hatten weisse Flaggen angebracht, zum Teil mit Zeichnungen drauf, dass Kinder im Auto sitzen», so Pedorich. Auf dem Weg in Richtung Westen sass sie mit ihrer Familie für fünf Tage in einer Ortschaft fest. Man suchte Schutz in einem Kellerkorridor, während eine Bombe im Garten des Hauses einschlug. Bei Temperaturen um die minus 9 Grad. «Weil wir kein Internet hatten, wussten wir nie, wo die Russen waren oder wo zwischenzeitlich militärische Checkpoints aufgestellt wurden. Wir standen unter Strom», so die zweifache Mutter.
Surreal und angsteinflössend waren diese Momente, die vor allem ihre beiden Kinder nicht richtig einordnen konnten. Auch sie sahen die Panzerkolonnen vorbeiziehen und die Zerstörung in den Städten und Dörfern. «Sie fragten mich immer wieder: «Sind das echte Panzer? Ist das jetzt ein echter Krieg?»
Seinen Teil beitragen
Über die polnische Grenze flüchteten Pedorich und Kuschnirenko zu Fuss. Mit dem Bus fuhren sie weiter nach Frankfurt, wo die den Zug nach Zürich nahmen. Sie sind von Herzen dankbar, in der Schweiz zu sein. Die grosse Hilfe und Unterstützung, die ihnen aus der Gemeinde zuteil wird, rührt sie sehr. Die Kinder gehen in den Kindergarten oder besuchen die Schule. «Die Sprache ist natürlich eine Herausforderung, aber die Kinder lernen schnell», so Malakhivska. Durch Spenden haben die Kinder Fahrräder und Trottinetts bekommen und spielen bei diesem schönen Wetter draussen. Die Mütter hoffen, dass sie so auf andere Gedanken kommen. «Jemand hat meiner Tochter Kleider gegeben. Das war das erste Lächeln seit Langem», so Kuschnirenko.
Auch Pedorich und Kuschnirenko lernen täglichen ein- bis eineinhalb Stunden in einem Kurs intensiv Deutsch. Auch wollen sie arbeiten. Unterstützt durch Malakhivska suchen die beiden zurzeit eine Arbeitsstelle. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer haben eine gute Ausbildung. So auch die beiden Geflüchteten. Für sie ist klar, dass sie etwas leisten wollen in dem Staat, der sie aufgenommen hat. Auch hilft Malakhivska, sich mit den Schweizer Gepflogenheiten bekannt zu machen. «Es ist wichtig, dass die geflüchteten Menschen verstehen, wie es hier funktioniert und welche Regeln gelten. Nur so können Konflikte vorgebeugt werden.» Beispielsweise hat Kuschnirenkos Sohn Dimitri das «Ämtli» gefasst, zu Hause für die Abfalltrennung zu schauen. «Das sind ideelle Werte, die hier gelten und die vermittelt werden müssen.» Und auch Pedorich hat an diesem Morgen ein «Ämtli» erledigt: Sie hat die Kinder vom Friedlisberg auf ihrem Schulweg nach Rudolfstetten begleitet. Eine Aufgabe, die abwechselnd von einem Elternteil im Dorf wahrgenommen wird.
Über ihre Erfahrungen zu sprechen, fällt den beiden Geflüchteten nicht leicht. Zusätzlich wiegt die Ungewissheit schwer, wie es in Zukunft weitergehen soll. Für sie ist klar, dass sie wieder in die Heimat zurückkehren wollen. «Doch auch wenn der Krieg morgen vorbei sein sollte und wir zurückkehren können, haben wir kein Zuhause mehr», so Kuschnirenko. Ihr Zuhause wurde zerstört.
Ob man überhaupt in absehbarer Zeit wieder zurückgehen kann, ist nicht zu beantworten. Bis dahin zählt für die Frauen, sich möglichst gut in der Gemeinschaft zu integrieren und in der Gemeinde einzuleben.
Vernetzung schafft Integration
Die Hilfsbereitschaft in der Gemeinde Rudolfstetten-Friedlisberg ist gross
Seit einigen Tagen steht Gemeinderätin Michèle Kaufmann eng mit Julia Malakhivska in Kontakt. Durch die schnelle Hilfe innerhalb der Gemeinde konnten die beiden geflüchteten Frauen und ihre Kinder unkompliziert aufgenommen werden. Hauptsächlich gestützt und getragen werden die beiden Familien ausser von ihrer Freundin auch von der Frauengemeinschaft Rudolfstetten.
Dank der guten Vernetzung der Vereinsmitglieder kann vieles speditiv und unbürokratisch organisiert werden. «Das ist der grosse Vorteil von einer Gemeinde, in der sich viele kennen: Man hat Zugriff auf ein Netzwerk. Es ermöglicht, schnell auf Bedürfnisse reagieren zu können, sei es durch die Beziehungen zur Kirche, zur Seelsorge oder in anderen Bereichen», so Michèle Kaufmann.
Seitens der Gemeinde ist man dankbar um die grosse Unterstützung aus der Bevölkerung und wertschätzt die Eigendynamik, die entstanden ist. Besonders die Frauengemeinschaft Rudolfstetten leistet «mehr als wertvolle Arbeit», wie Urs Schumacher betont.
Solidarität und die Vernetzung ist nach Michèle Kaufmann ein wichtiger Teil, damit die Aufnahme und Integration von Geflüchteten funktionieren kann. Die Verbindung zur und mit der Gemeinde wird in diesen Zeiten unabdingbar, denn: «Wir sind realistisch. Es werden noch mehr Geflüchtete kommen, die unsere Hilfe brauchen.» Nebst der Hilfe für die Familien Pedorich und Kuschnirenko hat die Gemeinde Rudolfstetten-Friedlisberg zusätzliche Vorkehrungen getroffen.
So habe man dem Kanton gemeldet, dass man weitere sechs bis acht Plätze bereits bezugsbereit hat. «Weiter schauen wir, dass in der Liegenschaft, wo die Asylsuchenden leben, noch Kapazitäten geschafft werden», so Urs Schumacher.
Michèle Kaufmann und Urs Schumacher sind sich einig: «Niemand kann das Schicksal ändern. Aber uns ist bewusst, dass wir einfach das Beste aus der Situation machen müssen.»