Fast wie ein Sieg
12.10.2021 SportDie Hägglingerin Michelle Andres holt Rang 4 im Madison an den Elite-Bahn-Europameisterschaften in Grenchen
Am letzten Tag der Bahn-Europameisterschaften in Grenchen gelingt der Hägglingerin Michelle Andres und ihrer Kollegin Léna Mettraux ein Exploit. Im ...
Die Hägglingerin Michelle Andres holt Rang 4 im Madison an den Elite-Bahn-Europameisterschaften in Grenchen
Am letzten Tag der Bahn-Europameisterschaften in Grenchen gelingt der Hägglingerin Michelle Andres und ihrer Kollegin Léna Mettraux ein Exploit. Im Madison, dem Zweier-Mannschaftsfahren, holen sie den 4. Rang. Für die Freiämterin ist das der bisher grösste Erfolg der Karriere.
Josip Lasic
Oft hört man Sportler vom undankbaren 4. Rang sprechen. Auf diesem Platz zu landen, bedeutet, das Podest knapp verpasst zu haben. Solche Assoziationen hat die Hägglingerin Michelle Andres aber in keiner Weise nach ihrem 4. Platz an den Bahn-Europameisterschaften. «Ich habe keinen einzigen negativen Gedanken. Es ist die beste Platzierung, die wir je an einer EM geholt haben.»
Andres, die im Ausscheidungsfahren der Frauen noch übel gestürzt war (siehe Ausgabe vom vergangenen Freitag), hatte noch am Morgen des letzten Wettkampftages starke Kopfschmerzen. «Zunächst hat mich das nervös gemacht. Als dann der Wettkampf da war, als ich mental im Tunnel war, da habe ich keine Schmerzen mehr gespürt. Ich war so voller Adrenalin.» Dennoch haben sie und ihre Mitstreiterin im Madison, Léna Mettraux, im Vorfeld den Ball flach gehalten. «Wir dachten, dass wir mit einem technisch sauberen Rennen und einigen herausgefahrenen Punkten vielleicht einen Platz in den Top 8, vielleicht sogar Top 6 anpeilen können. Nie hätten wir an einen 4. Rang gedacht.»
Das Heimpublikum hat sie getragen
Dann liefern die Freiämterin und ihre Kollegin eine starke Leistung ab. «Das Heimpublikum war sicher eine grosse Hilfe. Es hat uns richtiggehend getragen. Es war jedes Mal eine Freude, an ihm vorbeizufahren», sagt Andres.
Die Zuschauer tragen die beiden Schweizerinnen so sehr, dass sie sogar einen Rundengewinn herausfahren können. «Das ist uns vorher nie gelungen. Und dann das erste Mal an der Heim-EM. Ein grossartiges Gefühl», erzählt Andres. «Wir wollten so sehr eine starke Leistung zeigen, dass wir nicht auf die anderen Nationen geschaut haben. Früher hätten wir uns hinter den Top-Ländern versteckt, sind vor den Olympia-Siegern und Weltmeistern fast ein wenig in Ehrfurcht versunken. Jetzt konnten wir befreit losfahren, ohne uns Gedanken zu machen wie ‹Was machen die Holländerinnen?› oder etwas Ähnliches. Am Ende habe ich gesehen, dass viele Fahrerinnen der Top-Nationen mit ihren Kräften am Ende sind. Das hat mich und Léna zusätzlich gepusht», berichtet die 24-Jährige.
Nach der EM ist vor der WM
Michelle Andres betont, dass dieser 4. Rang an der Europameisterschaft mit Abstand der grösste Erfolg in ihrer Karriere ist. «Einerseits ist es sportlich der grösste Erfolg, andererseits auch als Erlebnis. Wir arbeiten und trainieren so hart, jahrelang. Wir verzichten auf so viel, opfern so viel. Es ist schön, dass das Früchte trägt. Wir haben fast intensiver gefeiert als die Siegerinnen. Für die war es ‹nur› eine weitere Medaille. Für uns war der 4. Platz so etwas wie ein Sieg.»
Momentan ist Andres zu Hause in Hägglingen. Eine Woche hat sie Zeit, um sich auszuruhen. Dann geht es am Sonntag in Richtung Paris–Roubaix in Frankreich, wo am Mittwoch, 20. Oktober, die Bahnradweltmeisterschaften starten. Wie an der Europameisterschaft wird die junge Freiämterin dann in der Mannschaftsverfolgung, der Elimination und dem Madison antreten. «Im ersten Moment war ich ein wenig nervös im Hinblick darauf, dass jetzt gleich die WM ansteht. Aber ich denke, dass wir viele gute Erfahrungen und Selbstvertrauen von der EM mitnehmen können.» Die Radsportlerin betont, dass sie und das Schweizer Team nicht abheben möchten. «Aber wir wissen, dass wir uns nicht vor den grossen Nationen verstecken müssen. Und ich für mich habe gelernt, was mental alles möglich ist. Nach meinem Sturz war ich in der Lage, alle Schmerzen auszublenden und im Madison eine gute Leistung zu zeigen. Das sind alles wertvolle Erfahrungen.»
Trotz ihrem Sturz war die Heim-EM ein Erfolg für die Freiämterin. In der Mannschaftsverfolgung der Frauen konnte sie mit den Schweizerinnen einen neuen Schweizer Rekord aufstellen, im Madison den 4. Rang holen, Selbstvertrauen und mentale Stärke tanken. Alles in allem ist das fast wie ein Sieg für Michelle Andres.