Dort, wo er hinwollte

  05.10.2021 Niederwil

Der Niederwiler Sandro Inguscio ist Digital-Chefredaktor beim «Blick»

Sein Karriere beim «Blick» kennt nur eine Richtung: steil nach oben. Sandro Inguscio musste dafür aber viel tun.

Stefan Sprenger

«Ich liebe den Boulevard», sagt der 35-jährige Sandro Inguscio. Zuletzt war er (der jüngste) Nachrichtenchef der «Blick»-Geschichte. Seit wenigen Monaten hat er noch mehr Verantwortung. Der Freiämter ist Chefredaktor von Blick TV und Blick.ch. Und er nimmt zudem Einsitz in der Chefredaktion. Für Inguscio geht damit ein Traum in Erfüllung.

Ein Traum, der 2006 bei dieser Zeitung angefangen hat. Als Sportredaktor absolvierte er die Medienschule in Luzern. Den Sprung zum «Blick» schafft er 2010. Newsreporter, Sportredaktor, Online-Blattmacher – und schliesslich Nachrichtenchef. Inguscio kletterte die Karriereleiter steil nach oben. Für den beruflichen Erfolg tat er alles, was nötig war. Am 1. Juli trat er seine neue Stelle als Führungsperson an. «Kaum jemand versteht die Mechanik des ‹Blick›- Newsrooms so detailliert wie Sandro Inguscio», begründet Christian Dorer, Chefredaktor der Blick-Gruppe, die Wahl von Inguscio zum neuen Digital-Chefredaktor.

Was kaum einer kennt, ist die Geschichte dahinter. Inguscios ganz persönliche und eindrückliche Familienstory, die viel mit seinem berulichen Werdegang zu tun hat. «Es hilft beim Verstehen, wieso ich einen kleinen Flick weghabe», meint er. Dieser Zeitung hat er detailliert erklärt, wieso die Familie Inguscio immer für ihr Glück hart arbeiten musste.


Eine Familie, die zu träumen wagt

Wie das Leben den «Blick.ch»-Chefredaktor Sandro Inguscio aus Niederwil geprägt hat

Die Geschichte beginnt auf einer italienischen Piazza im Jahr 1959. Sie handelt von Kampf, Träumen und riesigem Ehrgeiz. Heute, 60 Jahre und viele Lebenskapitel später, erzählt Sandro Inguscio, wieso diese Geschichte seinen Werdegang so stark geprägt hat – und ihm auf seinem Weg zur Führungsposition beim «Blick» geholfen hat.

Stefan Sprenger

Die Hosen, die Jacke, das Shirt, die Haare, der Bart. Alles ist schwarz. Nur die Socken sind weiss wie die Sneaker. So steht Sandro Inguscio mitten in Niederwil. «Meine Oase», wie er sein Dorf nennt. Hier ist er aufgewachsen, hier hat sein Vater den Coiffeursalon «Arena», hier ist seine Heimat. Und jeden Sonntag ist «Family-Time». Dann ist er immer in Niederwil. Die restlichen sechs Tage der Woche ist der 35-Jährige einer der grössten Entscheider in der Schweizer Medienlandschaft. Als Chefredaktor von «BlickTV» und «Blick.ch» hat er sich einen riesigen Traum erfüllt. Schon wieder.

Bei der Bushaltestelle im Zentrum sitzt er auf einer Bank. Als «Töfflibuebe» vorbeirattern, schaut er ihnen amüsiert hinterher. «Das ist Niederwil.» Er schlägt die Beine übereinander und beginnt zu erzählen, was ihn im Leben am meisten geprägt hat. «Meine Lebensgeschichte erklärt, wie ich ticke und wieso ich ein wenig einen Flick weghabe», meint er – ohne zu lachen. Die Familie Inguscio musste hart für ein glückliches Leben arbeiten. Schon immer.

Mit Grossvater Vittorio beginnt alles

Die Geschichte beginnt auf einer Piazza eines Dorfes in Apulien, im Süden Italiens. Wir schreiben das Jahr 1959. Ein junger Bursche schlendert über den steinigen Dorfplatz. Es ist Sandro Inguscios Grossvater. Vittorio – oder Nonno – wird angeheuert für einen Maurerjob in der Schweiz. Er steigt in den nächsten Zug Richtung Norden – und landet im Kanton Zürich. Er suchte ein anderes Leben, ein besseres. Mit Arbeit und höherem Lohn. Vittorios Frau Rosetta, die Nonna, bleibt alleine in der Heimat, weil sie gerade hochschwanger ist. Im Bauch wächst ein Baby heran: Giorgio, der Vater von Sandro. Später reist die Mutter ebenfalls in die Schweiz. Der kleine Giorgio bleibt bei der Grossmutter in Apulien und wird die ersten Jahre von ihr grossgezogen. Man will Geld verdienen in der Schweiz, damit die Familie ein besseres Leben hat. «Sie hatten nichts und wollten etwas. Sie machten alles dafür, dass ihr Leben besser wird.» Die Familie arbeitete hart für ihren Traum. Tag für Tag. Jahrelang.

Der Standort wird gewechselt. Im Restaurant Schwyzerhuus in Niederwil nimmt Sandro Inguscio Platz auf einem klapprigen Gartenstuhl. Er bestellt einen Eistee und ein klassisches «Schnipo».

FC Wohlen ruft zum Boykott auf

Er beschreibt beim Mittagessen, wie er als junger Mann dem Traum nachrennt, einmal ein Journalist beim «Blick» zu werden. 2006 startet er als übereifriger Sportredaktor bei dieser Zeitung. Bis 2010 arbeitet er beim «Wohler Anzeiger» und wirbelt mächtig Staub auf. Er will damals alles dafür tun, dass der «Blick» auf ihn aufmerksam wird. Kleines Beispiel: In seiner Zeit bei dieser Zeitung provoziert er die Verantwortlichen des FC Wohlen mit seinen überspitzten Formulierungen derart, dass der FCW wochenlang zu einem «WA»-Boykott aufruft.

2010 schafft er den erhofften Sprung. Das Boulevardblatt wird auf ihn aufmerksam, weil er an einem Medientermin – es ging um einen möglicherweise pädophilen Lehrer aus Wohlen – mit seiner Art und seiner Fragestellung der anwesenden «Blick»-Reporterin imponierte. Ziel erreicht. Wenige Monate später hat er seinen ersten Arbeitstag beim «Blick». Es sei einer der schönsten Momente seines Lebens gewesen. Seit er 14 Jahre alt ist, ist dies sein grösster Wunsch.

Sein beruflicher Weg kennt nur noch eine Direktion: steil nach oben. Er arbeitet als Newsreporter, Sportredaktor, Online-Blattmacher. Und Inguscio weilt mehrere Monate in Amerika und wird zum USA-Experten. 2017 wird er (der jüngste) Nachrichtenchef der «Blick»-Gruppe. Und seit wenigen Monaten ist er Chefredaktor von «Blick.ch» und «BlickTV». «Die Chance war da, ich musste sie packen», meint er zu diesem neuerlichen Aufstieg. Der Nachkomme italienischer Immigranten aus dem 3000-Seelen-Dorf Niederwil führt beim Boulevardblatt rund 60 Leute und ist der Kopf von verschiedensten Projekten. Hauptaufgabe: Er soll die digitale Transformation der Marke «Blick» weiter vorantreiben. Er sei «sehr gut» gestartet. «Das Team reagiert gut auf die neuen Impulse, ist bereits spürbar besser im Newsroom integriert. Wir können die Geschichten mehr 360 Grad für Online, TV und Print denken und umsetzen. Was heutzutage das Entscheidende ist. Es gibt viel zu tun, langweilig wird mir nicht.» Er nimmt den letzten Bissen seines Schnitzels und meint: «Schon krass, was in den letzten Jahren alles passierte.»

Vater Giorgio und Mutter Sonja mussten für die Liebe einstehen

Weg vom «Blick». Zurück zur Geschichte. Sein Vater Giorgio kam als kleiner Junge in die Schweiz zu seinen Eltern. Die Sprache fremd, die Heimat fern. Eine harte Zeit für ein Kind. Wie schon Vittorio muss auch Giorgio beissen. Auch er verfolgt seine Leidenschaften mit allem, was es dazu braucht. Das scheint in der Familie zu liegen. Kaum aus der Schule, kann Giorgio seine Traumstelle als Innendekorateur nicht antreten, weil sie erst ein Jahr später frei wird. Undenkbar für seinen Vater. Die Familie braucht Unterstützung – und er muss seinen Teil dazu beitragen. Giorgio wird Coiffeur und macht daraus mehr. Er besitzt Salons in Zürich, eröffnet später in Niederwil die «Arena», die er bis heute neben einem Salon in Baden führt.

Als genug Geld beisammen ist, kauft sich die Familie später mit dem Ersparten ein Haus in Niederwil (zuvor wohnte man in Berikon). Und der italienische «Gigolo», wie sein Sohn ihn lächelnd nennt, findet in einer Disco seine Traumfrau. Giorgio, der Secondo, und Sonja, die Schweizerin. Sie verlieben sich und werden ein Paar. Das Problem: Die Liebe zwischen Giorgio und Sonja wird im Familienumfeld damals nicht wohlwollend aufgenommen. «Auch das war ein Kampf», wie Sandro Inguscio sagt. «Sie mussten für ihre Liebe einstehen.»

«Unbeschwerte Kindheit im Freiamt»

Giorgio und Sonja meistern auch diese Hürde. Sie heiraten. Gemeinsam haben sie zwei Kinder: Patricia und Sandro. Anfang der 90er-Jahre hat die Familie in Niederwil ihr Zuhause gefunden. «Sie hielten sich stets gegenseitig und uns den Rücken frei und ermöglichten uns eine wunderschöne und unbeschwerte Kindheit hier im Freiamt. Das war Gold wert. Und dafür bin ich ihnen unglaublich dankbar.»

Über Generationen hinweg hat sich die Familie Inguscio Ziele gesteckt und alles dafür getan, sie zu erreichen. «Man muss Extrameilen fressen, um seine Träume zu verwirklichen», so Sandro Inguscio. Und so hat auch er es getan. Dass drei Generationen der Inguscios immer wieder ihre Träume trotz schwieriger Umstände verwirklichen konnten, erfüllt ihn «mit Stolz».

Im Restaurant Schwyzerhuus in Niederwil wird der Espresso serviert. Hier in seinem Dorf, seiner Oase, hat er so einiges erlebt. Beim FC Niederwil träumt er wie so viele Jungs davon, einmal Profifussballer zu werden. Doch als Teenager zerfetzt er sich das Knie. Noch heute kennt er viele Menschen im Verein und checkt jedes Wochenende im Internet, wie der FC Niederwil gespielt hat, und liest in dieser Zeitung die Spielberichte. In Niederwil besucht er die Schule, geht ins Marschtrommeln und spielt auf den Quartierstrassen Rollhockey. «Ich hatte keine Sorgen, bin behütet aufgewachsen. Das ist ein unfassbares Geschenk.»

Mittlerweile ist er Papi

Ein unfassbares Geschenk hat er auch zu Beginn dieses Jahres erhalten. Seine Frau Pamela – mit der er seit 2017 verheiratet ist – bringt eine gesunde Tochter zu Welt. Und bald bauen sie ein Haus in einem kleinen Dorf in der Nähe von Baden. Glück perfekt.

Inguscio muss als frischgebackener Vater den Spagat zwischen Arbeit, Alltag und Familienleben meistern. Seine «Work-Life-Balance» war schon immer schlecht, wie er selbst sagt. Er versucht nun seinen Medienkonsum «gesünder zu gestalten». Die Arbeit und das Privatleben will er strikte trennen. «Die Familie ist auf Platz 1. Die Arbeit danach», so sein Credo. Ganz immer kann er das nicht einhalten. Aber: Als Papi sei er «vollständiger» und «ein besserer Mensch» geworden. Die Tochter zeigt ihm eine andere Seite des Lebens – und auch von sich selbst.

Sandro Inguscio, ein Vollblutreporter, der vieles für seine steile Karriere gemacht hat. Eisern kämpft er für jeden Schritt – und erreicht alles, was er sich vorgenommen hat. «Ich wollte das immer. Es war mein Traum. Insofern ist meine berufliche Laufbahn auch ein Ego-Ding, weil es meine eigenen Ziele sind», sagt er. Mit «Baby-Steps» hat er sich hochgearbeitet und gehört heute zu den einflussreichsten Personen in der Schweizer Medienlandschaft. Wieso mag er den «Blick» eigentlich so? Sein Grossvater Vittorio lernte die deutsche Sprache mithilfe der Boulevardzeitung. Bei der Schweizer Familie der Mutter gehörte der «Blick» täglich auf den Tisch. Und: «Der Boulevard ist eine ehrliche Dimension von Emotionen, der ‹Blick› macht Geschichten greifbar und wagt sich auch an heikle Themen.» Über die Vorgehensweise des «Blicks», den teilweise «harten» Boulevardjournalismus und über die Grauzone, in der man sich manchmal bewegt, könnte man mit ihm stundenlang diskutieren (dies würde den Rahmen dieses Textes aber sprengen). Sicher ist: Inguscio hätte auf jede Kritik eine passende Antwort bereit. Und wenn jemand eine andere Meinung hat, akzeptiert er diese auch.

Das Ende ist kitschig – aber wahr

Die Rechnung ist bezahlt im «Schwyzerhuus». Vor dem Coiffeursalon «Arena» seines Vaters erzählt Inguscio noch das Ende seiner Geschichte. Eine Dorfpiazza in Apulien, im Süden Italiens. Wir schreiben das Jahr 2010. Ein älterer Herr namens Vittorio ist nach 50 Jahren in der Schweiz wieder in seiner Heimat. Nach hartem Kampf hat er sich und seiner Familie die Träume verwirklicht. Und jetzt ist er dran. Er ganz alleine. Er baut in Apulien sein Haus um und lebt gemeinsam mit seiner Frau Rosetta glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende. Kitschig. Aber wahr. Sein Enkel Sandro Inguscio lächelt. Die besten Geschichten schreibt eben doch das Leben selbst.


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