Abgang nach zehn Jahren
29.12.2020 SportDer Waltenschwiler Felix Bingesser war zehn Jahre lang der Chefredaktor Sport der «Blick»-Gruppe. Nun zieht er sich zurück und überlässt sein Amt Steffi Buchli. Der 57-Jährige bleibt dem «Blick» treu, kann nun wieder vermehrt das tun, was er gerne macht: ...
Der Waltenschwiler Felix Bingesser war zehn Jahre lang der Chefredaktor Sport der «Blick»-Gruppe. Nun zieht er sich zurück und überlässt sein Amt Steffi Buchli. Der 57-Jährige bleibt dem «Blick» treu, kann nun wieder vermehrt das tun, was er gerne macht: Geschichten schreiben. In dieser Zeitung wird er im neuen Jahr als Kolumnist zu lesen sein. --spr
Der Rucksack ist weg
Felix Bingesser tritt nach zehn Jahren als «Blick»-Sportchef ab
Die Ära Felix Bingesser endet am 31. Dezember. Nach zehn Jahren tritt der Chefredaktor Sport der «Blick»-Gruppe ab. Freiwillig. Den Rucksack und den 24-Stunden-Job ist er los. Der Waltenschwiler «Romantik-Journalist» will sich nun wieder vermehrt dem Schreiben hingeben. Und lässt seine packende Feder im neuen Jahr auch für diese Zeitung kreisen.
Stefan Sprenger
Alt-Bundesrat Adolf Ogi spricht zum Abschied auf die Combox: «Felix. Du hast unglaublich viel gemacht für den Sport in der Schweiz. Danke vielmal.» Es war eine von ganz vielen Nachrichten, die Felix Bingesser in diesen Tagen erhalten hat. Es sind (meistens) Hymnen des Lobes. Er ist akzeptiert von den Kritikern und wird gemocht von seinen Mitarbeitern und Konkurrenten. Ein feiner, fairer Typ mit dem Gespür für die richtigen Storys und den diplomatischen Fähigkeiten, die es braucht in einer Führungsrolle beim «Blick».
«Dieser Job lässt einen nie los»
Zehn Jahre war er Sportchef des «Blick». Zehn Jahre zwischen ständiger Erreichbarkeit und grossem Druck. «Dieser Job lässt einen nie los. Man ist ständig am Nachdenken. 24 Stunden», meint der Waltenschwiler. «Das kostete am meisten Energie.» Bingesser war in seiner Zeit als «Blick»-Sportchef auch als Schlichter und Vermittler zuständig. «Es wird gehobelt im Boulevard. Und jemand muss die Späne zusammenwischen.» Das war meistens er.
Er möchte diese Zeit aber nicht missen. Auch wenn es ihm etwas genommen hat, was er so sehr liebte. Denn seine journalistische Arbeit wurde immer seltener. Recherchieren, selber etwas verfassen, Geschichten kreieren, das war nicht mehr seine Kernaufgabe. Aus dem romantischen Schreiber, der sich mit Leidenschaft dem Sport widmete, wurde ein Chef, der die Fäden in der Hand hält.
In den letzten zehn Jahren war er «nur» noch für die «Blick»-Kommentare zuständig. 3. Dezember 2010: «Die FIFA in der Wüste» war der erste von vielen Bingesser-Kommentaren. Die Meinung zugespitzt, die Haltung kritisch. «Boulevard eben», lacht er. Für seine Kommentare landete er 2020 bei der Wahl zum Sportjournalisten des Jahres auf dem 3. Rang. In diesen Tagen wird er sich mit einem Goodbye-Kommentar von der Leserschaft verabschieden.
Der Job als «Blick»-Sportchef war ein Schleudersitz. Nur einer war länger im Amt als Bingesser. Peter A. Frei blieb elf Jahre. Dass er diesen Job nun freiwillig abgibt, sei ein langer Prozess gewesen. «Ich habe zehn Mal darüber geschlafen», meint er. «Es ist wie im Skispringen. Es ist eine Kunst, den richtigen Zeitpunkt für den Absprung zu erwischen.» Und dieser perfekte Absprungzeitpunkt ist jetzt. Im Alter von 57 Jahren. «So glaube ich zumindest. Aber ganz sicher bin ich auch nicht. Gewisse Selbstzweifel gehören bei jeder Veränderung dazu.»
Harassen voller Story-Ideen
Er wird in Zukunft mehr Zeit haben. Mehr Zeit für seine Familie. Mehr Zeit fürs Skifahren, Jassen oder um mit dem Töff die Schweizer Pässe zu überqueren. «Zeit ist wichtiger als Geld», sagt der heimatverbundene Freiämter, der in seinem Leben trotz gutem Gehalt nie dem Luxus verfallen ist.
Wie sieht Bingessers Zukunft aus? Er bleibt im Verwaltungsrat der Ringier Sports AG und wird seiner Nachfolgerin Steffi Buchli mit Ratschlägen zur Seite stehen. Denn: Buchli war seine Wunschkandidatin. «Sie kann das», sagt er und untermauert in einem Kommentar die neue Chefin wie folgt: «Jetzt übernimmt eine Frau mit Kompetenz, mit Tatendrang, mit Ausstrahlung.»
Er will wieder mehr schreiben. Für den «Blick» natürlich. Und auch für diese Zeitung. Im neuen Jahr wird er neuer, alter Kolumnist für die «Freiämter Regionalzeitungen AG». Die erste Kolumne hat er schon geschrieben. «Ich konnte nicht schlafen, hatte eine gute Idee und habe sie gleich ins Handy eingetippt.» Ohne sie gelesen zu haben, weiss man: Die Kolumne wird hervorragend sein. «Für meine Kolumnen im Wohler Anzeiger erhalte ich meist mehr Reaktionen als auf einen Artikel im Blick», meint er. Die Nähe zu den Leuten ist für ihn nach wie vor essentiell.
Vielleicht trifft er bald eine 38-fache Mutter
In Zukunft will er noch viele Geschichten kreieren. Auf dem Estrich in Waltenschwil hat er drei Harassen voll mit Artikeln, Ideen und Notizen aus den letzten 30 Jahren. «Ich bin ein Sammler», meint er. Und in diesen Harassen schlummern viele Story-Ideen – auch ausserhalb des Sports. Beispielsweise möchte er Mariam Nabatanzi in Uganda besuchen. Die Frau hat 38 Kinder zur Welt gebracht. «Wie kann sie sich alle Namen ihrer Kinder merken?», ist eine Frage, die er beim möglichen Besuch klären will.
In seiner Karriere hat Bingesser viel erlebt. Viermal geht er zur «Aargauer Zeitung», zweimal zum «Blick» – und gründet das Fachmagazin «Sport». Zwei Jahre arbeitet er als Chefredaktor Sport bei der «Stuttgarter Zeitung».
Digitalisierung macht «ratlos»
Als «journalistisches Herrenleben» beschreibt er den Grossteil seiner jungen Karriere damals. Er interviewte als erster Journalist überhaupt einen schnellen Jamaikaner namens Usain Bolt oder tuckerte mit Grönland-Trainer Sepp Pjontek mit dem Schiff durch die Eisberge zu einem Auswärtsspiel. «Wir hatten viel Zeit für eine Geschichte.» Heute ist das anders. Der Job hat sich gewandelt. «Blick TV», Online-Aufgaben, die Digitalisierung hält Einzug. «Die rasante Digitalisierung lässt einen manchmal schon etwas ratlos zurück. Ich versuche da mitzukommen. Aber ich bin nun mal kein Digital Native. Und das werde ich auch nicht mehr», meint er.
Die Leserschaft darf sich jetzt wieder auf tolle Geschichten freuen. Autor: Felix Bingesser. «Auch ich freue mich sehr.» Der «Romantik-Journalist» legt seinen Rucksack als «Blick»-Sportchef ab und darf wieder das tun, was er am meisten liebt: schreiben. Bingesser tritt aus dem Rampenlicht. Um es mit den Combox-Worten von Adolf Ogi zu sagen: «Felix. Danke für alles. Wir werden dich vermissen.»