Stunde der Wissenschaft?
26.05.2020 PolitikGastbeitrag von Nationalrat Matthias Jauslin (FDP) aus Wohlen zur Krisensituation in der Schweiz
Unzählige Vergleiche, Studien, Statistiken werden rund um die Coronakrise herumgeboten. Diesem Zahlenmaterial steht FDP-Nationalrat Matthias Jauslin sehr kritisch ...
Gastbeitrag von Nationalrat Matthias Jauslin (FDP) aus Wohlen zur Krisensituation in der Schweiz
Unzählige Vergleiche, Studien, Statistiken werden rund um die Coronakrise herumgeboten. Diesem Zahlenmaterial steht FDP-Nationalrat Matthias Jauslin sehr kritisch gegenüber. «Man überlässt der Politik und den Medien die Interpretation von Statistiken und Studien», schreibt Jauslin in seinem Gastbeitrag.
Während die Weltwirtschaft wegen der Coronapandemie in einer Rezession zu versinken droht, feiern dagegen die Verschwörungstheoretiker und populistische Politiker Hochkonjunktur. Ein globales, gefährliches Virus, dessen genauer Ursprung nicht bekannt ist, bietet guten Nährboden für die absurdesten Theorien und Ideen. Glaubhafte wissenschaftliche Beweise werden leider oftmals vergeblich gesucht.
Bereits Mitte April beklagt der UN-Generalsekretär António Guterres entnervt die vielen Fehlinformationen, welche insbesondere über digitale Medien im Zusammenhang mit der Coronapandemie verbreitet werden. Er bezeichnet die Situation als «eine gefährliche Epidemie der Desinformation» und mahnt, dass dies die Stunde der Wissenschaftler, nicht der Verschwörungstheoretiker sei.
Zahlen genau studieren
Eine repräsentative Umfrage von Tamedia zeigt, dass jeder Dritte in der Schweiz falsche Vorstellungen über das Virus Sars-CoV-2 hat. Die Behauptungen reichen von einer schnelleren Verbreitungsgeschwindigkeit über Mobilfunkstandard 5G bis zu Bill Gates’ Plänen zur Implementierung eines Mikrochips in Zusammenhang mit einem Impfzwang. Auch dass das Coronavirus nicht schlimmer als eine saisonale Grippe sei, wird gerne behauptet. 2015 starben laut Bundesamt für Statistik 2500 Personen in der Schweiz infolge einer saisonalen Grippe. Tatsächlich ist das viel, verglichen mit den rund 1600 Corona-Toten schweizweit (Zahlen BAG). Allerdings gibt es keine Aussage, wie viele Todesfälle es ohne die vom Bundesrat angeordneten Lockdown-Massnahmen wohl gegeben hätte. Dieser Vergleich hinkt demzufolge massiv.
Dass das Virus, gegen das wir bis heute keinen wirkungsvollen Impfstoff haben, nicht zu verharmlosen ist, zeigt aber die rasante Ausbreitung weltweit.
Mittlerweile gibt es unzählige Studien im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Da stellt sich schnell die Frage, welche Informationen denn der Realität am nächsten kommen und welche Quellen denn nun verlässlich sind. Der deutsche Virologe Hendrik Streeck kommt zum Beispiel in einer Pilotstudie zum Zwischenergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit einer Coronavirus-Erkrankung bei 0,37 Prozent und die Mortalität (auf die Gesamtbevölkerung bezogen) bei 0,06 Prozent liegt. Diese Werte sind rund zehnmal tiefer als jene der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und rund fünfmal tiefer als jene der viel zitierten Johns-Hopkins-Universität.
Oder eine dänische Studie mit 1500 Blutspendern kommt zum Ergebnis, dass die Letalität von Covid-19 bei nur 1,6 Promille liegt; das heisst über zwanzigmal niedriger als von der WHO ursprünglich angenommen. Eine Untersuchung der Medizinischen Universität Wien kommt zum Schluss, dass das Alters- und Risikoprofl der Verstorbenen in Zusammenhang mit der Coronainfektion in etwa der normalen Sterblichkeit entspricht. Aktuelle Zahlen zeigen auf, dass über die Hälfte der Schweizer Todesopfer älter als 84 Jahre (in etwa die Lebenserwartung in der Schweiz) waren.
Nur die halbe Wahrheit
Im April titelte das Portal «Euronews» gestützt auf Statistiken der Johns-Hopkins-Universität: «Schock für die USA: Mehr Covid-19-Tote als in Italien». Das löste bei mir zuerst Bedauern und dann Stirnrunzeln aus. Der Griff zum Taschenrechner bestätigte mir meine Zweifel. Die USA hat rund 328 Millionen Einwohner. Tatsächlich entsprechen die 97 400 Covid-19-Todesfälle (Stand 23. Mai 2020) rund 0,3 Promille der USA-Bevölkerung. Demgegenüber hat Italien rund 60 Millionen Einwohner. Die ebenfalls bis am 23. Mai 2020 gemeldeten 32 700 Covid-19-Todesfälle kommen also 0,55 Promille der Bevölkerung unseres südlichen Nachbars gleich. Somit verzeichnet Italien im Verhältnis beinahe doppelt so viele Todesfälle. Der Titel ist offensichtlich reisserisch formuliert und entspricht nur der halben Wahrheit. Gewissen Medien scheint in dieser schwierigen Situation jedes Mittel recht zu sein, um regelmässig Hiobsbotschaften zu kreieren und so ständig Unsicherheit zu schüren.
Sollen wir einfach auf das Bauchgefühl hören?
Auch weitere Zahlen in diversen Statistiken verleiten zu völlig schiefen Interpretationen. Da wird zum Beispiel eine Liste der Infzierten pro Land geführt und weltweit verglichen. Doch diese Ergebnisse wären ja abhängig von der Zahl der effektiv durchgeführten Tests, einer einheitlichen Datenerhebung und der Berücksichtigung der doch sehr unterschiedlichen Dunkelziffer. Leider bedienen sich sogar Behörden solch unzulässiger Vergleiche; eine globale Zusammenarbeit gegen die Pandemie
fndet nicht statt.
Man überlässt der Politik und den Medien die Interpretation von Statistiken und Studien. Warum nur lassen wir uns so an der Nase rumführen? Es müsste doch der Wissenschaft möglich sein, die Fakten so weit aufzubereiten, dass verlässliche Vergleiche und Schlussfolgerungen möglich sind. Ja, es wäre die Stunde der Wissenschaft. Doch genau von dieser Seite fehlen glaubwürdige und verständliche Beurteilungen.
Da stellt sich für mich als Bürger die Frage, wem ich nun vertrauen soll. Der Wissenschaft, den Medien, der Politik oder ganz einfach meinem Bauchgefühl?
Aus speziellem Anlass verfassen beide Freiämter Nationalräte je einen Gastbeitrag zur Coronasituation in der Schweiz. Nationalrat Andreas Glarner (SVP) war in der Ausgabe vom vergangenen Freitag an der Reihe. Nun erfolgt der Gastbeitrag von Nationalrat Matthias Jauslin (FDP).