Exot im Klassenzimmer
17.04.2020 SchwingenDer Innerschweizer Topschwinger Marcel Bieri unterrichtet in Rudolfstetten
Im Klassenzimmer und im Sägemehl ist Marcel Bieri eine Ausnahmeerscheinung. Ob als stärkster Lehrer der Schweiz oder als schwingender Exot: der 25-jährige Zuger macht eine gute ...
Der Innerschweizer Topschwinger Marcel Bieri unterrichtet in Rudolfstetten
Im Klassenzimmer und im Sägemehl ist Marcel Bieri eine Ausnahmeerscheinung. Ob als stärkster Lehrer der Schweiz oder als schwingender Exot: der 25-jährige Zuger macht eine gute Figur.
Stefan Sprenger
Heimkampf vor 56 000 Zuschauern. Der Zuger Marcel Bieri wächst am «Eidgenössischen» über sich hinaus. Nach fünf Gängen hat er fünf Siege. Der 25-Jährige ist nun definitiv der Geheimfavorit auf den Schwinger-Thron. Am Ende wurde es mit sechs Siegen und zwei Niederlagen der starke 6. Rang. «Besser habe ich wohl nie geschwungen», sagt Bieri im Anschluss an das «Eidgenössische».
«Nicht dort Schule geben, wo ich lebe»
Der 30-fache Kranzgewinner ist jetzt Eidgenosse. Und Rudolfstetten im Freiamt feierte mit. «Sie, Herr Bieri, gälled Sie, Sie hend en Chranz gwunne?», hiess es nach dem «Eidgenössischen» oft vonseiten der Schüler. Die Schule veranstaltete eine dezente Willkommensfeier. «Das passte mir ganz gut», erzählt Marcel Bieri. Privat, Sport und Beruf will er so gut es geht trennen. Das ist auch der Grund, wieso er nicht in seiner Heimatregion rund um Edlibach im Kanton Zug unterrichten will. «Ich möchte aus verschiedenen Gründen nicht dort Schule geben, wo ich lebe.»
An der Mutscheller Schule ist er nun seit bald zwei Jahren. Der Klassenlehrer unterrichtet Mathematik, Deutsch, Sport, Englisch und Realien. Sein Pensum beträgt 92 Prozent. Der Arbeitsweg dauert 40 Minuten. «Und die Schule hier passt mir bestens. Es gefällt mir sehr.» Die Sprachbarrieren seien überschaubar, wie er lachend sagt.
«Undercover»-Dasein
Das Freiamt sei ganz ähnlich wie seine Heimatregion. Grosser Unterschied: In Rudolfstetten-Friedlisberg ist man nicht so Schwinger-affin. Zwar gibt es mit dem Schwingklub Freiamt einen grossen Verein in der Region, mit Joel Strebel und Andreas Döbeli gibt es zudem zwei Neu-Eidgenossen, doch der Kernpunkt des Sports ist im Bünztal und nicht auf dem Mutschellen. Dieses gewisse «Undecover»-Dasein hat für den Lehrer seine Vorteile.
Nicht nur seine sportlichen Fähigkeiten machen den 1,90 Meter grossen Mann zu einer Attraktion. Auch die Seltenheit seines Berufs. Auf der Primarstufe unterrichten nämlich fast nur Frauen. Nur etwas über 10 Prozent sind Männer. Im Schulhaus in Rudolfstetten ist das Verhältnis von Frauen zu Männern 22 zu 3.
Im Sägemehl wiederum ist er ein Exot, weil er eben unterrichtet und einen «etwas anderen» Beruf hat. Denn die meisten Schwinger haben «Büezer»-Jobs. Sie arbeiten auf dem Bau, als Landschaftsgärtner, Geflügelfachmann, sind Landwirte, Zimmerleute oder Lastwagenchauffeure – und so weiter. Auch Bieri machte zuerst eine Zimmermann-Lehre. Doch dann wurde er Primarlehrer. «Bei meinen Schwingerfreunden muss ich mir oft Sprüche anhören. Als Lehrer bin ich schon ein wenig der Paradiesvogel», so Bieri.
Döbeli und Strebel «können die Szene prägen»
Marcel Bieri kann die beiden Topschwinger des Freiamts sofort nennen. «Strebel und Döbeli, das sind zwei heisse Eisen», wie er sagt. Den Sarmenstorfer Andreas Döbeli trifft er regelmässig im Spitzensport-Militärdienst.
Marcel Bieri holte seinen ersten Kranz 2012. Im Jahr 2017 holte er den Sieg am Zuger «Kantonalen». Der Topschwinger ist auch im Nationalturnen eine grosse Nummer. Und – was erst beim Gespräch mit ihm auffällt – er ist auch einiges redegewandter und offener als viele Schwinger. «Ich bin es als Lehrer eben gewohnt, vor Menschen zu sprechen. Lehrer reden eben viel», sagt er lachend.
Über die Freiämter Topschwinger Döbeli und Strebel sagt er: «Sie können die Szene in den nächsten Jahren prägen.» Und er selber? «Ich will immer steiler bergauf, ich will gesund bleiben und meine Leistungen bestätigen. Ich möchte in Zukunft möglichst viele Schlussgangteilnahmen schaffen und ich will am nächsten ‹Eidgenössischen› wieder einen Kranz holen.» Dann wird er nicht mehr im Freiamt unterrichten. Im Sommer 2020 wird er im Kanton Schwyz eine neue Stelle antreten. «Eine neue Herausforderung – und der Arbeitsweg ist kürzer.» Der stärkste Lehrer der Schweiz wird in Rudolfstetten Spuren hinterlassen.
Schwingen und Schule mit Corona
Marcel Bieri ist in Zeiten des Coronavirus als Schwinger und Lehrer sehr eingeschränkt. Der Trainingsbetrieb ist eingestellt. Der Unterricht fällt aus. «In der Schule sind wir am Vorausplanen. Die Situation könnte bis in den Sommer dauern», so Bieri. Er hofft, dass es nicht so weit kommt. «Ich habe eine 6. Klasse und möchte die Kinder schon nochmals sehen, bevor sie weiterziehen.» Er ist auf «Home-Schooling» ausgerichtet (momentan sind aber Frühlingsferien) und er hat ein virtuelles Klassenzimmer eingerichtet, sodass seine Schüler ihren Lehrer jeden Tag sehen können. So kann man die Eltern entlasten und den Kindern eine Tagesstruktur geben. «Und ich kann ihre Fragen beantworten.» Es sei eine herausfordernde Situation für alle.
Im Schwingen ist der Trainingsbetrieb eingestellt. Der Fokus liegt im Krafttraining und beim Joggen im Vita-Parcours. «Fit halten und Abstand halten, so lautet das Motto», sagt Bieri. Er hofft, dass es dieses Jahr noch ein Kranzfest gibt. «Ich verstehe es aber auch, falls erst im Jahr 2021 wieder geschwungen wird.» --spr