Verliebt in Berge und Natur
27.09.2019 MuriMit 15 Jahren zog es ihn weg – in die Berge. Dort ist Heinrich Haller geblieben. Während 24 Jahren war Haller Direktor des Schweizerischen Nationalparks. Der Natur ist er verfallen. Aufgewachsen ist Haller in Muri. Und den Freiämter Dialekt, den hat er in all den Jahrzehnten nicht ...
Mit 15 Jahren zog es ihn weg – in die Berge. Dort ist Heinrich Haller geblieben. Während 24 Jahren war Haller Direktor des Schweizerischen Nationalparks. Der Natur ist er verfallen. Aufgewachsen ist Haller in Muri. Und den Freiämter Dialekt, den hat er in all den Jahrzehnten nicht verloren. Ende September geht Haller in Pension. --ake
Ganz nah am Puls der Natur
Der Murianer Heinrich Haller hat als Direktor des Schweizerischen Nationalparks seinen Traum verwirklicht
Mit den Bergen verbunden war er immer, war seine Familie schon immer. «Auf mich hat sich das wohl einfach stärker übertragen», sagt Heinrich Haller. 24 Jahre lang leitete er den Schweizerischen Nationalpark. Ende Monat geht er in Pension. Haller ist überzeugt: «Nationalpärke braucht es mehr denn je.»
Annemarie Keusch
Heinrich Haller ist Fan und Direktor in einem. Der Schweizerische Nationalpark, «ein fantastisches Gebiet». Wild, roh, Natur in ihrer Urform. «Alles, was mich fasziniert, ist hier verkörpert», sagt er. Naturschutz betreiben, wissenschaftlich forschen, die Öffentlichkeit auf dem Laufenden halten. «Es ist ein anspruchsvoller Job», sagt Haller. Intensiv sei es. Hunderte Überstunden hätten sich jährlich angesammelt. «Das gehört dazu.» Darum jammert er diesbezüglich nicht. Vor allem auch darum, weil er es gerne macht, weil er als Direktor des Schweizerischen Nationalparks seine Faszination tagtäglich ausleben kann. Und das, obwohl seine Tätigkeit fast zu hundert Prozent aus Büroarbeit besteht.
Die Kraft dafür gibt ihm die Natur. «Obwohl ich fast ausschliesslich im Büro sitze oder an Meetings teilnehme – ich mache das für die Natur. Dessen bin ich mir jeden Tag bewusst. Wenn man weiss, wofür man das macht, dann fällt es einem nicht schwer.» Ausserdem habe er sich vorher ausgelebt. Zehn Jahre durfte er als Nationalfondsstipendiat Feldforschung betreiben.
Bald wird Davos von Zernez überholt
Die Faszination und die Liebe zur Natur wurden Heinrich Haller in die Wiege gelegt. Sein Vater war Präsident des SAC Lindenberg. «Lustig, aber nicht ganz zufällig ist, dass mein späterer Schwiegervater Präsident des SAC Davos war.» Im Gestein, auf den Gipfeln, dort fühlte sich Haller schon immer wohl. Mit ein Grund, weshalb er seine Murianer Heimat schon mit 15 Jahren verliess. «Meine Eltern suchten die Mittelschule in Davos aus für mich», erzählt er. Nicht nur wegen seiner Anziehung zu den Bergen ein Glückstreffer. Haller heiratete später eine Walserin, gründete mit ihr eine Familie und lebte lange Zeit in Davos. «Die längste Zeit meines Lebens, aber bald wird Davos von Zernez ein- und überholt.»
«In den Bergen herrscht eine ungeheure Vielfalt auf kleinstem Raum», erklärt er. Als Biologe sei das paradiesisch. Komme hinzu, dass die Präsenz des Menschen an einem kleinen Ort ist. «Dort, wo die Landschaft unberührt ist, dort, wo es schwierig ist, überhaupt hinzukommen, dort gefällt es mir», sagt Haller. Gebirgsökologie wurde das Fachgebiet des Biologen. Lange Jahre war er als ausserplanmässiger Professor an der Universität Göttingen tätig.
Urgrossvater wirtete im «Lindenberg»
Einen wirklichen Bezug zum Freiamt hat der 65-Jährige nicht mehr. Die Besuche in seiner alten Murianer Heimat sind selten geworden. «Das heisst aber nicht, dass ich meine Wurzeln leugne», meint er schmunzelnd. So wisse er, dass sein Grossvater einst Gemeindeschreiber in Muri war, dass seine Mutter ursprünglich Frey hiess und Ur-Murianerin ist und dass sein Urgrossvater väterlicherseits einst den Schritt vom Seetal ins Freiamt wagte und Wirt im Restaurant Lindenberg war. Auch sein Dialekt ist Zeuge seiner Wurzeln. «Ich bin nicht so talentiert darin, Sprachen zu lernen, vielleicht ist das Freiämter-Deutsch deshalb geblieben.»
Es sind die wenigen Spuren seiner Wurzeln. Trotzdem sagt Haller: «Ich bin Freiämter und Bündner, aber vor allem Schweizer und Europäer.» Er habe Bezüge zu verschiedenen Heimaten. Infolge seiner Tätigkeit als Biologe fühle er sich auch mit dem Wallis bestens verbunden. Seit 1996 wohnt er in Zernez, eine Minute Fussweg von seinem Arbeitsort im Schloss Planta-Wildenberg entfernt, dem Verwaltungssitz des Nationalparkes. In Rumantsch kann er sich gut verständigen, «aber weit weg von perfekt».
Alle Wissenschaften sind gefragt
Heinrich Haller ist gerne in den Bergen unterwegs. Ein Gipfelstürmer sei er aber nicht, das betont er. Er mag den Himalaya oder Tibet. Und das nicht, weil er unbedingt die höchsten Gipfel erklimmen will. «Die Natur und die Kultur faszinieren mich, nicht das möglichst schnelle Erreichen eines Gipfels.» Trotz des Bürojobs, im Nationalpark ist Haller oft unterwegs, «gerne mit anderen Menschen, aber genauso gerne alleine».
Dass die Tätigkeit des Direktors beim Schweizerischen Nationalpark für Haller ein Traumjob war und ist, kommt nicht von ungefähr. «Hier habe ich mit vielen wissenschaftlichen Disziplinen zu tun, kann mein biologisches Wissen einsetzen», sagt er. Und, die Wildtiere seien nicht einfach da. «Man muss sie finden.» Und es sind eher aussergewöhnliche Arten, die Haller speziell faszinieren. Es ist nicht der mächtige Bündner Steinbock, sondern es ist der Steinadler, aktuell der Kolkrabe oder – in früheren Jahren – der Luchs.
20 Bartgeier-Brutpaare
Er habe die Verantwortung gerne getragen. Und Herausforderungen gab es genug während den beinahe 24 Jahren als Direktor. Er ist ein ruhiger, bedachter Typ. Emotional wird Haller nicht, auch nicht, wenn es um Wilderer geht. «Dieses Problem konnten wir eindämmen.» Mit diesem Thema beschäftigte er sich schon in jungen Jahren, damals auf noch abenteuerliche Art und Weise, wie in einem seiner Bücher nachzulesen ist. «Bestimmt haben die rund 150 im Park verteilten Fotofallen ihren Beitrag gegen die Wilderer geleistet», sagt Haller heute. Er betont aber, die Fotofallen seien primär zu Monitoring-Zwecken, also zum Nachweisen der Tiere, vor allem des Wolfes, installiert worden.
Die Wildtiere sind ein zentraler Teil des Schweizerischen Nationalparks. Umso stolzer verkündet Haller, dass die Wiederansiedlung des Bartgeiers eine Erfolgsgeschichte sei. Rund 20 Paare seien im Engadin und dessen weiterer Umgebung etabliert. «Die Geschichte ist vergleichbar mit der Wiederansiedlung der Steinböcke.» Heute wären diese mächtigen Tiere aus dem Nationalpark nicht mehr wegzudenken. Aber auch der Wolf schickt sich an, wieder einzuwandern. «Wir freuen uns darüber.»
Natur bewusster schätzen
Aber es gab nicht nur die schönen Momente, zu der auch die Feier zum hundertsten Geburtstags des Nationalparkes gehörte. Heinrich Haller musste auch Niederlagen einstecken. Gegenwind kam etwa bei der geplanten Erweiterung des Parkes auf. Die Einrichtung einer Umgebungszone fand in Zernez keine Mehrheit.
Für ihn ist klar: «Der Nationalpark steht viel besser da als vor Jahrzehnten – auch in der Region. Die Engadiner reden heute von ihrem Park.» Dessen Angebote werden in der Region geschätzt, nicht zuletzt wegen der touristischen Wertschöpfung. Überhaupt, das Verhältnis zur Natur sei allgemein intensiver geworden. «Viele schätzen Naherholungsgebiete, um durchzuatmen, um Energie zu tanken.» Das Bewusstsein, dass das nicht selbstverständlich ist, habe es nicht immer gegeben. «Auf den Lorbeeren auszuruhen sei aber ganz bestimmt die falsche Einstellung.»
Umwelt nicht nur technisch schützen
Haller ist überzeugt, mehr Nationalparkfläche oder ein zweiter und dritter Nationalpark täten der Schweiz gut. «Obwohl Naturschutz nicht nur mit Pärken geht, sind sie ein wichtiger Mosaikstein.» 13 Nationalpärke gebe es im Alpengebiet. «Nur einen in der Schweiz, damit können wir uns nicht brüsten.» Im technischen Umweltschutz sei die Schweiz weit fortgeschritten. «Beim grünen Naturschutz ist die Bilanz bedeutend schlechter.» Grössere Räume, wo nicht oder kaum in die Natur eingegriffen wird, wo natürliche Dynamik herrscht und lückenlos Räuber-Beute-Beziehungen wirken, sind in unserem Land zu wenige vorhanden.
Ein zweiter Nationalpark – Haller sieht Potenzial, selbst im Aargau. «Die Flüsse sind ein Naturparadies, das noch weiter aufgewertet und umfassender behandelt werden könnte. Spätere Generationen würden es uns danken, davon bin ich überzeugt.»
Wandern mit Doris Leuthard
Ende Monat geht Heinrich Haller als Direktor des Schweizerischen Nationalparks in Pension. «Wobei, Direktor ist eigentlich die Natur.» Zurück in die Heimat zieht es ihn nachher nicht. «Schauen Sie sich um, wie wunderschön es hier ist.» Speziell im Nationalpark werde er auch künftig einen Teil seiner Freizeit verbringen. Er übergebe den Schlüssel mit guten Gefühlen. «Ich kann gut loslassen, auch nach 24 Jahren.» Aber loslassen muss er nur seinen Bürojob, seine Liebe zur Natur und speziell zum Nationalpark kennt kein Rentenalter.
Ein ganz spezieller Bezug zum Freiamt bleibt noch. Weil der Nationalpark eine öffentlich-rechtliche Institution ist, untersteht er dem UVEK, dem Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation. Jahrelang betreute die Merenschwander Bundesrätin dieses Departement. «Wir sind zusammen im Park gewandert.»
Schweizerischer Nationalpark
Der Schweizerische Nationalpark wurde 1914 gegründet und ist damit der älteste Nationalpark der Alpen. Der Park befindet sich im Engadin im Kanton Graubünden und erstreckt sich über eine Fläche von 17 030 Hektaren. Der höchste Punkte liegt auf 3174 Metern über Meer, dem Piz Pisoc, der tiefste auf 1400 Metern über Meer, in Scuol. Rund 40 Mitarbeitende teilen sich 25 Vollzeitstellen. Der Schweizerische Nationalpark ist eine öffentlich-rechtliche Stiftung.