Wenn Eltern ihr Kind manipulieren
05.07.2019 KelleramtEin Mädchen darf seinen Vater nicht mehr treffen – weil die Mutter es so will
Bei Scheidungen werden die Kinder oft zum Spielball der Eltern. Dabei kommt es nicht selten vor, dass ein Elternteil das Kind beeinflusst. Meistens ist es die Mutter. Eine Frau aus dem Kelleramt erzählt, wie sie von ihrer eigenen Mutter manipuliert wurde.
Chantal Gisler
«Ich hatte über ein Jahr fast keinen Kontakt mit meinem Vater.» Annas (Name der Redaktion bekannt) Stimme zittert. Sie möchte ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen, möchte ihren Eltern nicht schaden, indem sie erzählt, was sie wegen ihnen durchmachen musste. «Es ist halt, wies ist», meint sie und zuckt mit den Schultern. «Aber ich trage es ihnen nicht nach.» Die heute 21-Jährige spricht nicht gerne über die Scheidung ihrer Eltern. Noch heute ist die Beziehung mit ihrem Vater angespannt.
Mit gerade mal zehn Jahren wird sie zum Spielball ihrer streitenden Eltern. Die Scheidung steht an. Und gleichzeitig wollen beide das Kind für sich haben. Ihre Mutter kauft ihr Spielzeug und Kleider, bei ihrem Vater darf sie Pizza und Hamburger essen. Eines Tages eskaliert der Streit: «Meine Mutter erlaubte mir nicht mehr, meinen Vater zu treffen.» Mit dem Vater telefonieren? «Selten bis gar nicht», erinnert sie sich. Wenn sie ihn treffen darf, dann ausserhalb der Wohnung.
Taten der Eltern wirken sich auf die Kinder aus
Dabei hatte sie bis zu ihrem 11. Lebensjahr eine glückliche Kindheit. Dafür ist sie ihren Eltern dankbar. Dann, vor rund zehn Jahren, der Bruch. Ihre Eltern streiten sich immer häufiger, immer lauter. Schliesslich reicht ihr Vater die Scheidung ein. Ihre Mutter wirft ihn raus. Jetzt geht es um alles: Geld, Alimente, die Wohnung, das Kind. Der Streit ums Sorgerecht ist für Anna am schlimmsten. Ihren Vater trifft sie nur noch selten. Im Fachjargon spricht man von einer Eltern-Kind-Entfremdung. Laut Kindesschutz Organisation Schweiz (Kisos) gibt es pro Jahr rund 12 000 Scheidungs- und rund 400 Trennungskinder. Fünf Prozent der Scheidungskinder werden von einem Elternteil manipuliert. In neun von zehn Fällen von der Mutter. So auch Anna.
Plötzlich verschwindet der Vater aus ihrem Leben
Vor Gericht kämpfen Annas Eltern um das Sorgerecht für Anna. Ihre Mutter will das alleinige, ihr Vater das geteilte. In dieser Zeit wohnt Anna bei ihrer Mutter. Solange kein Urteil gefällt ist, steht es ihrem Vater zu, sie alle zwei Wochen am Wochenende zu sich zu nehmen. Ihre Mutter will das mit allen Mitteln verhindern. Sie nimmt sie mit zum Einkaufen, macht Pläne für Anna ohne ihren Vater. Ihr selbst sagt ihre Mutter, dass der Vater keine Zeit habe. Und Anna glaubt ihr. «Mein Vater war plötzlich aus meinem Leben verschwunden», erzählt sie. «Ich war wütend auf ihn. Wütend, dass er uns im Stich gelassen hat.» Ihren Vater konfrontiert sie nicht damit. Sie glaubt ihrer Mutter. Und blockt den Kontakt zu ihm nach und nach ab. Das hat bis heute Auswirkungen: Mit ihrer Mutter hat sie ein gutes Verhältnis, sie unternehmen viel miteinander.
Beim geteilten Sorgerecht müssen sie umziehen
Unterdessen geht der Scheidungskrieg vor Gericht weiter. Die Anwältin informiert ihre Mutter, dass es auf ein geteiltes Sorgerecht ausgehen könnte. Doch das will ihre Mutter um jeden Preis verhindern. «Sie erzählte mir, dass wir umziehen müssten wenn meine Eltern das geteilte Sorgerecht haben.» Alleine kann Annas Mutter nicht für ihr Zuhause aufkommen. «Ich hatte Angst. Ich wollte nicht weg.» Schliesslich überredet ihre Mutter sie, einen Brief an den Richter zu schreiben. Darin steht, dass Anna bei ihrer Mutter bleiben und ihren Vater nicht mehr sehen möchte. «Ich begriff damals nicht, was ich da schrieb», erklärt sie. «Ich war doch erst zehn Jahre alt. Wie sollte ich denn all diese Dokumente verstehen?» Ihre Stimme zittert. «Ich wollte einfach, dass alles wieder gut wird.»
Einige Tage später ruft der Vater wutentbrannt bei seiner Tochter an. Was denn dieser Brief soll? Anna hat Angst. «Wieso willst du mich nicht wieder sehen?», ruft ihr Vater aus dem Hörer. «Was hat Mami dir erzählt?» Anna weint. Ihre Mutter schreitet ein. Die Eltern streiten am Telefon. Anna flüchtet in ihr Zimmer.
Der Richter will mit Anna sprechen
Einige Wochen später flattert ein Brief ins Haus. Der Familienrichter möchte mit Anna sprechen. Ihr Vater habe den Verdacht, dass das Kind von seiner Mutter manipuliert wird. Anna hat Angst. Sie möchte nicht mit dem Richter sprechen. Was, wenn sie etwas Falsches sagt? Was, wenn ihre Mutter sauer auf sie wird? Was, wenn sie ihren Vater nie wieder sehen wird? Auch ihre Mutter wehrt sich dagegen. «Sie ist doch noch ein Kind!» Doch der Richter bleibt bei der Vorladung.
Wenige Tage vor dem Termin ruft ihr Vater immer wieder bei ihr an. «Erzähl dem Richter, was Mami dir gesagt hat.» Ihre Mutter betont: «Sag, dass du bei mir bleiben möchtest. Sonst müssen wir umziehen.» Anna: «Ich konnte damals nichts machen, ohne einen von beiden zu verletzen. Ich fühlte mich schuldig. Schliesslich war ich der Grund, weshalb sie sich überhaupt streiten.»
Die Vergangenheit gehört zu ihr
Ihre Mutter bringt sie an jenem Tag zum Gericht. «Der Richter war sehr freundlich zu mir», erinnert sie sich. Trotzdem bricht sie vor ihm in Tränen aus. Sie erzählt ihm alles, was geschehen ist. «Er sagte mir, dass ich meinen Eltern nicht erzählen muss, was ich ihm gesagt habe.» Dabei blieb sie.
Schliesslich liegt das Urteil vor. Annas Eltern haben das geteilte Sorgerecht. «Meine Mutter war unheimlich sauer», erinnert sie sich. Sie stellt Anna zur Rede. Doch Anna schweigt. Bis heute. «Die Scheidung ist für meine Familie ein Tabu.»
Heute lebt sie bei ihrer Mutter. «Wir haben ein gutes Verhältnis.» Im Gegensatz zu jenem mit ihrem Vater. «Ich habe mich oft gefragt, weshalb ich keine normale Familie haben konnte», sagt sie. Mittlerweile hat sie einen Weg gefunden, damit umzugehen: Akzeptanz. «Meine Vergangenheit ist ein Teil von mir. Ich muss damit leben. Mehr gibts dazu nicht zu sagen.»
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