«Musik ist mein Atem, mein Leben»
12.06.2019 Beinwil/FreiamtDie Dirigentin Anne-Cécile Gross bereitet das Jugendorchester Freiamt auf die Konzerttournee vor
Das Jugendorchester Freiamt beschäftigt sich mit Weltanschauungen, von der Huldigung der Harmonie der Proportionen bis zur musikalischen Umsetzung des Chaos. Wie sich ...
Die Dirigentin Anne-Cécile Gross bereitet das Jugendorchester Freiamt auf die Konzerttournee vor
Das Jugendorchester Freiamt beschäftigt sich mit Weltanschauungen, von der Huldigung der Harmonie der Proportionen bis zur musikalischen Umsetzung des Chaos. Wie sich Orchester und Dirigentin auf das Konzert am Freitag, 14. Juni, 19.30 Uhr, in der Alten Kirche Boswil vorbereiten.
Therry Landis
«Die Bratsche hierhin? Die 1. Geige vielleicht zwei Schritte weiter nach hinten?» Anne-Cécile Gross und Magdalena Reisser beraten sich in der Alten Kirche Boswil. Sie vereinbaren Anpassungen an die Beleuchtung, verrücken Stühle und Notenständer, die für das Jugendorchester Freiamt (JOF) bereitstehen. Dieses wird in einer Stunde zur wöchentlichen Probe eintreffen. Einstudiert wird das Programm «Weltanschauungen».
Das JOF gratuliert mit diesem speziellen Konzertprogramm zwei treuen Tournee-Gastgebern des Orchesters zu ihren Jubiläen: Die St. Josef-Stiftung, beheimatet im ehemaligen Kapuzinerkloster Bremgarten, feiert ihren 130. Geburtstag, und der Reusspark mit der Klosterkirche Gnadenthal feiert seinen 125. Geburtstag. In beiden Institutionen bespielt das JOF bei seinem Gastspiel den Kreuzgang.
Unterschiedliche Weltanschauungen der Komponisten
Der Kreuzgang diente Anne-Cécile Gross, der Dirigentin des JOF, denn auch als Inspirationsquelle für die Programmgestaltung. Die einzelnen Stücke der Konzerttournee spiegeln die unterschiedlichen Weltanschauungen ihrer Komponisten. Dmitri Schostakowitsch bringt die Zerbrechlichkeit und Sinnlosigkeit seiner Welt zum Ausdruck. Richard Wagner wiederum blickt durch das Prisma der nordischen Mythologie darauf. Robert Ashley befasst sich mit einem Mann, der unbekannte Territorien kartografierte. Einem Architekten, der sein Leben der Harmonie widmete, huldigt der Komponist Karl Jenkins. Und eine zutiefst religiöse Weltanschauung durchdringt das Werk von Giovanni Gabrieli.
Den Kindern eine einmalige Chance geben
Anne-Cécile Gross ist seit 2013 beim Künstlerhaus Boswil als Dirigentin und künstlerische Leiterin des JOF sowie der Orchesterakademie tätig. In dieser Zeit hat sie vielen Nachwuchsmusikerinnen und -musikern ihre Begeisterung für die Streichmusik weitergegeben. «Da wir erst seit Februar in der aktuellen Besetzung proben, ist das Programm eine grosse Herausforderung», erzählt die ursprüngliche Pariserin mit charmantem französischem Akzent. Beim JOF gehe es nicht nur um Talentförderung, sondern auch darum, den Kindern und Jugendlichen die vielleicht einmalige Chance zu geben, in einem Streicherensemble mitzuwirken und mehrmals jährlich an Konzerten aufzutreten. Die Aufgabe, aus den Individualisten ein Orchester zu formen, ist anspruchsvoll, doch die in Basel lebende Dirigentin und Musikpädagogin nimmt sie mit einer ansteckenden Begeisterung wahr. Ihre Augen leuchten, ihre Gestik ist lebhaft, wenn Anne-Cécile Gross über «ihre» Kinder spricht.
Die meisten davon sind zwischen 13 und 15 Jahre alt, momentan spielen 22 mit, es waren auch schon 30. «Der Jüngste ist zehn und spielt phänomenal, die Älteste ist 18 Jahre alt.» Wenn sie für die Konzerte Verstärkung benötigt, kann sie auf Ehemalige zurückgreifen. Diese kämen immer gern, manche auch sehr kurzfristig: «Für unsere 15-jährige Konzertmeisterin Moe hat sich die einmalige Gelegenheit ergeben, mit dem weltberühmten Geiger Maxim Vengerov in Monaco zu arbeiten und ein Konzert zu geben. Dadurch fehlt sie beim Auftritt in Bremgarten. Wir hatten das grosse Glück, kurzfristig für sie einen Ersatz zu finden.»
Mitglieder gesucht
Das JOF ist ein Förderprojekt des Künstlerhauses Boswil. Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 18 Jahren können Erfahrungen sammeln und unter professioneller Leitung in die Welt des Orchesterspiels eintauchen. Das Streichorchester nimmt laufend neue Mitglieder auf, die bereits etwas Erfahrung auf ihrem Instrument haben. Auskunft erteilt anne-cecile.gross@kuenstlerhausboswil.ch, Infos und Anmeldung unter www.jugendorchester-freiamt.ch und office@kuenstlerhausboswil.ch.
«Über Niveau zu sprechen, finde ich arrogant»
Die Cellistin Gross lebt für die Musik, das ist im Gespräch deutlich zu spüren. «Musik ist mein Atem, mein Leben», sagt sie. Diese Liebe möchte sie weitergeben. Wer im JOF mitspielen möchte, muss nicht vorspielen. «Über Niveau zu sprechen, finde ich arrogant», sagt sie mit Nachdruck. «Was ich erwarte, ist Begeisterung, Motivation und eine grosse Lust, etwas Neues zu lernen.» Bei ihr sind nicht die technisch Besten die Stimmführer, sondern jene, die führen können, «die Harmonie schaffen und die anderen mitreissen können». Die 1. Geige sei nicht besser als die 2. Geige, wer vorne sitzt, spiele nicht zwingend besser als jene dahinter.
Das ausgewählte Programm soll laut Anne-Cécile Gross eine Entdeckungsreise für die Mitwirkenden und das Publikum gleichermassen sein. Das Orchester wird einmal in zwei, einmal gar in vier Teile aufgesplittet. «Die Quadrofonie, inspiriert vom Kreuzgang der Klöster, soll die Zuhörer von allen Seiten mit Musik umhüllen.»
Die ersten Jugendlichen treffen ein. Anne-Cécile Gross begrüsst sie mit einer herzlichen Umarmung – die gegenseitige Zuneigung ist sofort spürbar. Das ist für die frisch eingebürgerte Baslerin die Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit, welche Ausserordentliches schaffen kann. Davon kann sich das Publikum am kommenden Wochenende überzeugen.
Weitere Aufführungen: Samstag, 15. Juni, 19.30 Uhr, Kapuzinerkirche, St. Josef-Stiftung, Bremgarten. Sonntag, 16. Juni, 17 Uhr, Klosterkirche Gnadenthal, Reusspark Niederwil.