Film voller Eindrücke
09.04.2019 FilmVor 50 Jahren ereignete sich die Explosion in der Sprengstoff-Fabrik in Dottikon. Fabian Furter hat mit seinem Team von «Zeitgeschichte Aargau» einen Dokumentarfilm darüber produziert. Das Werk liefert sehr viele und bemerkenswerte Eindrücke.
«Wie bei ...
Vor 50 Jahren ereignete sich die Explosion in der Sprengstoff-Fabrik in Dottikon. Fabian Furter hat mit seinem Team von «Zeitgeschichte Aargau» einen Dokumentarfilm darüber produziert. Das Werk liefert sehr viele und bemerkenswerte Eindrücke.
«Wie bei einem Flugzeugabsturz»
Team von «Zeitgeschichte Aargau» präsentiert Dokumentarfilm zum Explosionsunglück in Dottikon vor 50 Jahren
Die Erinnerungen der Zeitzeugen sind unauslöschlich. Und für das Team von «Zeitgeschichte Aargau» sind sie wertvoll. Der Dokumentarfi lm zur Katastrophe von Dottikon vor 50 Jahren ist informativ, reich an Fakten und beeindruckend.
Daniel Marti
Ein halbes Jahrhundert. Was für eine Zeitreise. Und trotzdem haben sich die Erinnerungen an den Dienstag, 8. April 1969, tief in die Gedanken der Menschen der Region eingeprägt. Um 7.17 Uhr ereignete sich das Explosionsunglück in Dottikon (siehe Ausgabe vom vergangenen Freitag). 18 Tote, über 40 Verletzte. Unendliche Trauer. Ein gigantischer Schaden an Gebäuden. Eine geknickte Region. Das Team von «Zeitgeschichte Aargau» hat sich auf Spurensuche gemacht. Und einen Dokumentarfilm gedreht. Eine knappe halbe Stunde wird darin über diese schreckliche Katastrophe berichtet. Das Ereignis wird eingeordnet in den damaligen Zeitgeist. Es wird aber auch «nur» erinnert an eine Tragödie, die für etliche Familien unfassbar endete.
Zeitzeugen, die nahe dran waren
Der Dokumentarfilm ist seit dem vergangenen Samstag auf Sendung. Produktionsleiter ist der Wohler Fabian Furter, heute wohnhaft in Baden. Furter, auch bekannt als Retter des Schlössli, des ältesten Steinhauses von Wohlen, hat mit dem Dokfilm zur Explosion in der Sprengstoff-Fabrik Dottikon ein beeindruckendes Werk realisiert.
Neun Zeitzeugen kommen zu Wort. Und neun eindrückliche Geschichten werden erzählt und untermauern die (tragischen) Fakten. Über 40 Personen haben sich auf einen Aufruf in dieser Zeitung gemeldet und ihre Story bei den Filmemachern deponiert. «Bei der Auswahl der Zeitzeugen haben verschiedene Kriterien eine Rolle gespielt. Klar war, dass wir uns auf maximal acht Zeitzeugen beschränken mussten, was per se schon schwierig war», betont Furter. Es wurden dann neun.
Die persönliche Geschichte war wichtig, und die Emotionen, die darin vorkommen. Furter nennt beispielsweise das Ehepaar Nyffeler, das im besagten Moment auf dem Weg zur geplanten Entbindung in Muri war. «Unglaublich». Das Filmteam suchte sich Geschichten heraus von Leuten, «die nah dran waren». Aber auch eine gewisse Distanz hatten zum Unglücksort. Es sollten Menschen sein aus verschiedenen Dörfern, ungefähr gleich viele Frauen wie Männer.
«Nichts Ähnliches seit dem Zweiten Weltkrieg»
Die ersten Reaktionen und Spekulationen am Dienstag, 8. April 1969, 7.17 Uhr, waren alle ähnlich: «Ein Erdbeben, ein Flugzeugabsturz», vermuteten fast alle Zeitzeugen als Ursprung des Knalls. «Seit dem Zweiten Weltkrieg habe ich nichts Ähnliches erlebt», sagte ein Zeitzeuge. Die Katastrophe hat sich eingeprägt in den Köpfen der Menschen – auch über eine Distanz von fünf Jahrzehnten hinweg. Es sind unauslöschliche Erinnerungen, die im Dokumentarfilm genannt werden.
Die neun Zeitzeugen sind Roman Furter (72), Dottikon; Walter Zehnder (91), Dottikon; Françoise Schmid (70), Wohlen; Guido Schmidli (63), Büelisacher, damals Villmergen; Josef Wietlisbach, Dottikon; Romy Gradwohl, Staufen, damals «Federal»- Wirtin in Wohlen; Gabriela Weibel-Keusch, Villmergen; Maria Giger, Waltenschwil; Peter und Hanni Nyffeler, Jonen. Alle wussten viel zu erzählen (siehe auch Ausgabe vom vergangenen Freitag). Gabriela Weibel-Keusch wohnte beispielsweise 50 Jahre auf dem «Hemberehof» direkt neben der «Pulveri». Und Walter Zehnder war als Ingenieur Mitarbeiter im technischen Büro der Sprengstoff-Fabrik. Er musste sofort in den Luftschutzkeller – trotz Glassplitter im Hals. Und die Direktion erteilte ihm rasch den Auftrag, nach Opfern von externen Firmen zu suchen.
Viel Material konnte gar nicht verwendet werden
Bei über 40 möglichen Zeitzeugen gab es auch «Trennungsschmerz», weil man nicht alles zeigen kann: «Das Medium Film ist für mich als Historiker nicht ganz neu, aber doch ist mir das Buch vertrauter.» Im historischen Buch könne er alle Details hinterleuchten. «Beim Film geht das nicht, da musst du dich unglaublich beschränken.» Gelernt hat er das beim Umsetzen von Ausstellungen: Den Sachverhalt maximal reduzieren, aber so, dass er noch konsumierbar und verständlich bleibt.
Furter gibt zu, dass für den Dokumentarfilm über die Katastrophe in Dottikon eigentlich eine Länge von zehn Minuten eingeplant gewesen war. «Beim Schnitt wurde schnell klar, dass das nicht zu schaffen ist.» Nun dauert er fast eine halbe Stunde, «was bei der heutigen Medienkonsumgewohnheit der Leute eine Ewigkeit ist».
Trotzdem hat sich das Filmteam laut Furter von «tausend Sachen trennen müssen». Es gibt viel zusätzliches Filmmaterial und grossartige Fotos von Keystone. Beides steht dank einer Partnerschaft mit SRF und Keystone-SDA für «Zeitgeschichte Aargau» zur Verfügung. Ein wesentlicher Punkt wurde bewusst weggelassen. «Auf die Opfer der Katastrophe gehen wir nicht ein. Da gab es neben den Toten auch viele Invalide. Was ist aus denen geworden?»
Dann gibt es noch einen Besitzer der heutigen Firma, die auf dem Katastrophen-Gelände von damals liegt. Der Besitzer, Markus Blocher (Sohn von alt Bundesrat Christoph Bocher), war stets involviert. «Nach anfänglichem Zögern, was ich verstehe, war die Dottikon ES sehr kooperativ und zuverlässig», so Furter. So habe sich Markus Blocher während den Dreharbeiten persönlich nach dem Wohlbefinden seines pensionierten Mitarbeiters und Zeitzeugen erkundigt. «Der fertige Film wurde sehr für seine objektive Herangehensweise gelobt und es wurden keinerlei Änderungswünsche vorgebracht.»
Die Frauen kämpften um die Gleichberechtigung
Die Idee des Films ist es auch, die weitergehende Forschung anzustossen. In diese Richtung zielen die Interpretationen von Fabian Furter, die er am Ende des Dokumentarfilms anspricht. Das Ereignis von Dottikon vor 50 Jahren war eben weit mehr als eine Katastrophe. Mit der Distanz von 50 Jahren erzeugen ein paar Gegebenheiten Stirnrunzeln. Die Frauen waren damals, 1969, keineswegs gleichberechtigt mit dem männlichen Familienoberhaupt. Die Frauen der Opfer kamen nicht einmal ans eigene Haushaltungsgeld heran, jedes Kind eines Opfers bekam automatisch einen Beistand.
Oder die Rolle der Gastarbeiter. Fünf davon waren unter den Toten, drei sogenannte Handlanger, ein Hilfsarbeiter. Die Gastarbeiter wussten wegen der Sprachprobleme nicht recht Bescheid, und die Überlebenden wollten nicht mehr zur Arbeit. In der damaligen Zeit war die Überfremdungsinitiative aktuell, dies machte die Situation der damaligen Gastarbeiter erst recht nicht einfach. Fabian Furter spricht im Dokumentarfilm bewusst mehr an als die eigentliche Katastrophe.
Der Dokumentarfilm ist einsehbar: www.zeitgeschichte-aargau.ch.
Idee endlich umgesetzt
Das persönliche Fazit von Fabian Furter
«Für mich schliesst sich mit dem Projekt ein Kreis», zieht Produktionsleiter Fabian Furter Bilanz. «Dottikon ist mein Heimatort.» Er hat zwar nie da gewohnt, aber als Kind sei er mit seinen Brüdern und Cousins oft mit dem Velo der Bünz und der «Pulveri» entlang zu seinem Grosi nach Dottikon gefahren. «Dass es in der Fabrik einst eine schlimme Katastrophe gegeben hatte, das wussten wir aus Erzählungen schon damals.»
Als Furter dann viel später als Mitorganisator seine erste Ausstellung in der Steingasse in Wohlen durchführte, da wurde eine Zeitzeugenrunde mit rund einem Dutzend Leuten organisiert. Das war 2006. Zufällig kam während dieser Runde die Sprache auf das «Pulveri»-Unglück. «Und sämtliche Anwesende konnten sich haargenau daran erinnern, was sie just in dem Moment machten, als es knallte», erinnert er sich.
Seit jenem Abend trug Fabian Furter die Idee mit sich herum, «dazu einmal ein Projekt zu machen». 13 Jahre später hat er mit «Zeitgeschichte Aargau» das richtige Format dafür gefunden. Der Kreis hat sich tatsächlich geschlossen. Imponierend. --dm