Von Kriegswirren zum Liebesglück

  18.07.2025 Wohlen

Fast zu viel für ein Leben

Die Wohlerin Theresia Kohlheimer und ihre Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg

Ihre Lebensgeschichte gäbe Stoff für ein ganzes Buch. Nun erzählt die gebürtige Österreicherin der Zeitung, was sie erlebt hat.

2022: Der Einmarsch der Russen in der Ukraine. 2025: Die Feiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Beide Ereignisse lösen bei Theresia Kohlheimer Erinnerungen aus. Denn die 94-Jährige hat das Ende des 2. Weltkriegs mitten im Kriegsgebiet erlebt und herbeigesehnt. Und musste kurz zuvor den Einmarsch der Russen in ihr Heimatland Österreich erdulden. Dies, nachdem sie zuvor unter dem Regime von Nazideutschland gelitten hatte. «Ich leide mit der Ukraine mit», sagt die Wohlerin heute. Sie hat hautnah zu spüren bekommen, wie die vermeintlichen Befreier aus Russland in ihrer alten Heimat gewütet haben. Sie weiss, wie es sich anfühlt, wenn jemand einem eine Pistole an die Schläfe drückt. Musste miterleben, wie ihr Vater von den Nazis abgeführt und später erschossen wurde. Hat gesehen, was der Krieg mit den Menschen anrichtet, die an der Front kämpfen. Theresia Kohlheimer hat Schreckliches erlebt. Aber später doch noch ihr Glück gefunden. Die letzten 60 Jahre lebte sie in Wohlen. Jetzt schaut sie zurück. --red


Die besondere Lebensgeschichte der 94-jährigen Theresia Kohlheimer: Sie überlebte in Österreich den Zweiten Weltkrieg

Sie machte in jungen Jahren ein turbulentes Leben durch. Nazi-Deutschland und die Russen waren eine grosse Gefahr für die Österreicherin Theresia Kohlheimer und ihre Familie. In der Schweiz fand sie Arbeit. Sie kämpfte sich durch und fand langsam ihr persönliches Glück. Über Luzern führte ihr Weg vor über 60 Jahren nach Wohlen.

Daniel Marti

«Eigentlich», sagt Theresia Kohlheimer, «wollte ich immer ein Buch schreiben über mein Leben.» Aber irgendwie fehlte immer die Zeit oder die Muse. Eines ist allerdings ganz sicher: Diese Biografie hätte etliche spannende Kapitel bekommen. Und an der Dramaturgie würde es auch nicht fehlen. Nun sitzt die 94-Jährige in ihrer guten Stube an der Büttikerstrasse. Und sie erzählt und erzählt. Schmückt ihre Lebensgeschichte mit Worten aus, sie hadert, zweifelt, ist demütig, mal traurig, mal froh, mal zufrieden.

Eine Geschichte wie ein Krimi bis hin zum Familienglück

Theresia, früher nur Resi genannt, hat ein bewegtes Leben hinter sich. Geboren am 3. März 1931 in der Ost-Steiermark in der Nähe von Ungarn. Ihr Leben war vielfältig: Der Anschluss von Österreich ans Deutsche Reich, an Nazi-Deutschland, der Tod des Vaters durch die Nazis, der Einmarsch der Russen, die Zerstörung, die unmenschlichen Behandlungen, das Kriegsende, die Arbeitsstellen in der Schweiz, bei Langenthal, am Bodensee, in Luzern und in Wohlen.

Das Leben von Theresia Kohlheimer war oft wie ein Krimi, nicht immer mit Happy End, auch mit Schicksalsschlägen, sie fand auch das Liebes- und Familienglück und mit Wohlen eine zweite Heimat.

Vor allem in diesen Tagen mit dem Ukraine-Krieg kommen ihr manche Erlebnisse aus der Vergangenheit wieder in den Sinn. Wie damals, als die Russen in ihr Dorf eindrangen. Und als sie eines Nachts eine Pistole an ihrer Schläfe spürte und sie den Schock fürs Leben hatte. Ja, Theresia Resi Kohlheimer kann vieles erzählen. Der Reihe nach.

Mit Hitler war plötzlich alles anders

In ihrer Schulzeit war die Welt in Ordnung. Nahe dem Burgenland lebte sie unbeschwert. Ihr Vater diente schon im Ersten Weltkrieg. Überlebte. Die Familie wusste damals schon, was Krieg bedeutet. Mit dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 wurde vieles anders. «Am Anfang haben wir nicht viel davon gespürt, wir wohnten ja 130 Kilometer weit weg von Wien», erinnert sie sich. Allmählich wusste sie, was diese Wiedervereinigung bedeutet. Als es im Dorf hiess, jetzt müsse man aufpassen, was man sagt, war allen der Gesinnungswandel bewusst. «Das galt sogar für die Pfarrherren …»

Auch in der Schule gab es beim allgemeinen Kurs eine markante Wende. Wer den Gruss «Heil Hitler» nicht mustergültig beherrschte, fasste die Strafe und musste 100 Mal den Satz schreiben: «Ich muss anständig Heil Hitler sagen». Oder später wurden in der Schule Kenntnisse über den Kriegsverlauf verlangt. Und Resi musste schriftlich festhalten: «Ich muss wissen, wo Hitlers Fronten stehen.» Sofort, 500 Mal.

Gräueltaten wurden dem Vater zum Verhängnis

Das frühere, unbeschwerte Leben war weg – mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs erst recht. «Alle jungen Männer mussten einrücken, es hatte nur noch Frauen, Kinder und Alte im Dorf», erinnert sie sich. Ihr geliebter Wohnort Oberlimbach mit seinen 17 Wohnhäusern wirkte wie ausgestorben. Und ihr Vater Anton Hechberger wurde erneut einberufen. Er musste zur Wehrmacht, war sofort in Polen stationiert. Wegen eines Schlaganfalls – es war sein dritter – wurde er bald nach Hause geschickt. «Und zu Hause in Oberlimbach erzählte er von der SS und ihren Gräueltaten in Polen.» Mit dieser Grausamkeit könne man doch keine Kriege gewinnen, mahnte er.

Was Resis Vater nicht wusste: «Unser Nachbar war ein Nazi.» Und der trieb sein Unwesen, lebte seine Gesinnung aus. Drohungen, Anschwärzen, Erniedrigungen. 1942 wurde Vater Hechberger wieder einberufen: Im Auftrag des Militärs musste er nach Ost-Tirol. Als Pferdepfleger. Der Nachbar schleppte ihn dann dreimal vors Militärgericht. «Der Satz mit der SS-Grausamkeit wurde meinem Vater zum Verhängnis. Nach der dritten Gerichtsverhandlung sagte der Richter: Gehen Sie nach Hause, Herr Hechberger, und verabschieden Sie sich von der Familie. Sie werden erschossen.»

Er wurde an die Grenzfront von Jugoslawien beordert – und drei Tage später exekutiert. «Er hat sich tatsächlich von uns vier Mädchen verabschiedet. Die Mamma hat so gelitten», erzählt sie. «Und der Nazi-Nachbar drohte, dass er unserer Mutter auch noch die Kinder wegnimmt.»

Der Russe, der ihr die Pistole an die Schläfe setzte

Diese Drohungen hielten an bis ins Jahr 1945. Dann kamen die Russen, über Ungarn drangen sie auf österreichischen Boden. Rund 50 russische Soldaten stationierten sich erst für eine Nacht am 8. Mai 1945 in Oberlimbach und im Haus der Familie Hechberger. Und die Russen griffen mit ihren Flugzeugen an – als Theresia mit drei Kühen auf dem Acker war. Wie durch ein Wunder, so erzählt sie es, haben alle vier den Angriff überstanden.

Dann sind die Russen doch noch einmarschiert im Dorf. «Fast alle einheimischen Frauen wurden vergewaltigt. Sie gingen von Haus zu Haus und klauten, was sie konnten», seufzt sie.

Die Russen hatten sich im nahen Hauptort Hartberg einquartiert, «und in jeder Nacht fuhren sie in die Dörfer. Auf der Suche nach Frauen.» Die Familie Hechberger hauste in einem verlassenen Bauernhof. Da geschah es: Ein betrunkener Russe setzte sich mit der Pistole in der Hand neben die junge Resi. «Davai. Davai.» «Vorwärts. Los», befahl er, sie sollte ihn bei einem Würfelspiel überholen … verbunden mit einer Drohung. Der junge Mann hielt ihr die Pistole an die Schläfe. «Wir alle hatten mit dem Leben abgeschlossen», sagt sie. Alle zitterten – und der Russe schoss in die Luft. Gott sei Dank.

Resi erlebte also das Kriegsende. Keine Selbstverständlichkeit. Die Russen mussten sich nach einem halben Jahr Richtung Osten zurückziehen, England war von nun an für den Bezirk Hartberg Burgenland zuständig und Schutzmacht. Von da an sei vieles wieder in Ordnung gebracht worden.

Noch fünf oder sechs Männer kehrten vom Krieg ins Dorf zurück. Der Rest war gefallen. Ein Mann kam vier Jahre später aus der russischen Gefangenschaft. «Aber der war nicht mehr normal.»

«Dann bleibe ich ledig …»

Dann trat die grosse Wende im Leben von Theresia Hechberger ein. Kurz vor Weihnachten 1949 durften sie nach Wolfwil in der Nähe von Langenthal reisen. «Die Schweiz suchte damals Arbeitskräfte, und in Österreich konnte man im Monat nur ein paar Schilling verdienen», erklärt sie. Die Arbeit auf dem Bauernhof bereitete ihr Spass, «nur der Chef war unmöglich». Und der hat von der damals 18-jährigen Resi etwas gewollt. Am Turnerabend 1950 eskalierte es erstmals und im folgenden Herbst ging es nach einem heftigen Streit nicht mehr weiter. Die Fremdenpolizei schaute vorbei und sie urteilte, dass es für Resi an diesem Ort nicht mehr sicher war.

Eine Freundin vermittelte sie an den Bodensee nach Ermatingen. Morgens ab 6.30 Uhr musste sie als Hilfskraft in einem Eisenwarengeschäft mitarbeiten. Bis spätabends. Zu essen gab es fast nichts. Sie wurde erneut ausgenützt. «Es reicht», hat sie schnell entschieden. «Ich habe halt bei den ersten zwei Stationen in der Schweiz Pech gehabt.»

Der dritte Aufenthalt brachte dann die Wende. Bei einer Obsthandlung, ebenfalls in Ermatingen, fand sie ihr Glück und eine sehr angenehme Chefin. Bis in den Frühling 1952. Chemikalien zur Behandlung der Bäume landeten in ihrem Gesicht – und sie musste zur Kur nach Hause nach Oberlimbach. Und 1953 lernte sie in Hartberg ihren zukünftigen Mann kennen. «Wenn der Mann mich heiratet, dann heirate ich tatsächlich. Und sonst bleibe ich ledig», schoss es ihr durch den Kopf. Ferdinand Kohlheimer, ein Österreicher, hatte es ihr sofort angetan. Kohlheimer, Fotograf, war auf einem Heimaturlaub aus St. Moritz, wo er diverse Foto-Aufträge erledigte.

Sie wurden schnell ein Paar. Und im Frühling 1954 zogen sie weg von Österreich. Nach Vitznau am Vierwaldstättersee, er arbeitete als Fotograf, sie als Haushaltangestellte. Beide noch ledig, «und zu Hause war deswegen die Hölle los». Am 21. November 1954 wurde geheiratet, zu Hause in Hartberg. Im August 1955 kam der erste Sohn, Ferdinand, im September 1956 der zweite Sohn, Harry, zur Welt. In Hartberg hatten sich die Hoffnungen zerschlagen, ein Fotogeschäft übernehmen zu können. Ihrem Mann fehlte die notwendige Meisterprüfung.

Dank Carl Camenzind von Luzern  ins Rex-Hochhaus

Die Hoffnungen lagen aber immer noch auf der Schweiz. Im Dezember 1956 reiste Ferdinand Kohlheimer nach Luzern. Auf gut Glück. Beim Bahnhof stiess er auf ein Geschäft: Foto Weber. Kohlheimer trat ein, fragte nach einem Job. Und die Antwort des Ladenbesitzers liegt Resi noch heute in den Ohren: «Der Herrgott schickt Sie …» Der erste Auftrag war in Davos. Drei Monate lang. Seine Frau kam im Sommer 1957 nach. In Kriens auf einem Bauernhof fand die junge Familie eine Bleibe. Zwei Jahre später ging es nach Luzern in ein Hochhaus, das dem Investor Carl Camenzind gehörte.

Und dieser Camenzind war verantwortlich, dass die Familie Kohlheimer schliesslich in Wohlen landete. Nach einem Ausflug nach Genf war bei der Heimkehr ihre Wohnung im Luzerner Hochhaus jemand anderem versprochen worden. Und Camenzind meinte: «Ihr könnt nach Wohlen ins Hochhaus Rex.» Dieses gehörte ihm ebenfalls, er kaufte es im Rohbau und baute es fertig. «Er war ein lieber Mensch», erinnert sich Theresia Kohlheimer. Das war 1963. Die junge Familie zog im achten Stock ein, nach fünf Jahren ging es an die Wilstrasse, dann an die Büttikerstrasse. Dort wohnt Theresia Kohlheimer seit vierzig Jahren.

«Ich leide mit der Ukraine» – und Russen wird sie nie mögen

«Am Anfang», sagt sie, «hat es mir in Wohlen nicht gefallen. Zudem waren wir Österreicher anfänglich nicht sehr beliebt. Aber alles ist dann besser geworden.» Ihr Mann fand 1969 eine Stelle bei Foto Stutz in Bremgarten, dort arbeitete er 20 Jahre lang bis zur Pensionierung. Nach einem Schlaganfall pflegte Resi ihren Ferdinand 23 Jahre lang zu Hause. Am 24. Mai 2024 ist Ferdinand Kohlheimer gestorben, im Alter von 100 Jahren und neun Monaten. «Wenn der mich nicht heiratet, dann heirate ich nie», hatte sie einst über ihre grosse Liebe gesagt. Im letzten Jahr musste sie nach rund 70 Ehejahren loslassen.

Die Kohlheimers hatten es immer gut in Wohlen. Aber am liebsten schaut sie auf Luzern zurück. «Wohlen ist nicht Luzern», seufzt sie. Aber nach den Kriegswirren in ihrer Heimat und dem nicht einfachen Prozess, sich in der Schweiz zu integrieren mit zwei Besuchen der Fremdenpolizei, entwickelte sich alles zum Guten.

Doch die Erinnerungen kommen immer wieder hoch – vor allem wenn sie heute vom Ukraine-Krieg hört oder liest. «Ich leide mit der Ukraine mit», sagt sie. Und die Russen mag sie bis heute nicht. «Damals in Oberlimbach war ich als Jugendliche so glücklich mit meinen drei Kühen.» Ihr Leben wäre anders herausgekommen, wäre der Zweite Weltkrieg nicht gewesen, sie hätte ihren Vater länger erleben können. Der Nazi-Nachbar hatte ihn als Juden denunziert, kommt es ihr wieder in den Sinn. Das hatte gereicht, um ihren Vater hinzurichten. «Was war das nur für eine Welt damals», sagt sie und blättert im Familienalbum.

Und dort drin entdeckt sie wieder so manche Geschichte, die das Leben von Theresia Kohlheimer geprägt hat. «Ach», sagte die 94-Jährige zum Abschied vom Mann von der Zeitung, «ich hätte vielleicht doch ein Buch schreiben sollen.» Es wäre angereichert mit unzähligen spannenden Kapiteln.


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