«Leben zu kurz zum Nichtstun»

  08.10.2021 Bremgarten

«Genusswerk»: Juri Tirez eröffnet dieses Wochenende sein neues Restaurant. Das ist alles andere als selbstverständlich

Im ehemaligen «Kreuz» ist im Sommer ein neues Restaurant entstanden. Das «Genusswerk» ist eng mit der Person von Juri Tirez verbunden, der eine bewegte Zeit hinter sich hat.

Juri Tirez ist ein viel beschäftigter Mann. Und in diesen Tagen sogar noch ein bisschen mehr. Kaum fünf Minuten vergehen, ohne dass jemand vorbeikommt oder sein Smartphone vibriert. Tirez’ Meinung, sein Rat und seine Expertise sind allenthalben gefragt. Kein Wunder – am 9. Oktober eröffnet mit dem «Genusswerk» sein neues Restaurant. Es ist das neuste Projekt des «Stiefelchnächt»-Betreibers und seine Ambitionen sind wie gewohnt gross. Beim Standort des ehemaligen «Kreuz» soll ein kleines Schmuckstück aufblühen, das beim «Eingang von Bremgarten eine gute Falle macht», wie es Tirez ausdrückt. Nichts weniger als eine Visitenkarte für seine Lieblingsstadt soll es also sein. Und deshalb ist er vor der Eröffnung auch ein wenig nervös. Weil die letzten Vorbereitungen laufen, ist der 38-Jährige quasi rund um die Uhr auf Achse für sein neustes «Baby».

Vor Kurzem fast gestorben

Dass Tirez dazu in der Lage ist, ist keinesfalls selbstverständlich. Und eigentlich sollte er es auch nicht sein. Die Ärzte haben ihn zur Ruhe und Schonung gemahnt. «Darum müsste ich es jetzt gemächlich angehen lassen», sagt Tirez leise und durchaus schuldbewusst. Aber die Beine hochlagern ist nun mal nicht seine Sache. «Das ist einfach in mir drin. Ich muss immer etwas machen. Wenn ich einfach zu Hause bin und andere für mich arbeiten, fühle ich mich schlecht.» Gut vier Wochen war der 38-Jährige wohl oder übel zum Nichtstun gezwungen. Just als die Renovationsarbeiten fürs «Genusswerk» anstanden, erlitt Tirez eine Hirnblutung. «Als es passierte, merkte ich sofort, dass etwas nicht mehr stimmt. Es fühlte sich an, als ob etwas in mir geplatzt sei, mir wurde ganz warm am Kopf und schwindlig.» Tirez wurde notfallmässig ins Spital eingewiesen. Sein Leben hing am seidenen Faden. «Die Ärzte gaben mir zu Beginn praktisch keine Überlebenschance. Das haben sie mir im Nachhinein gesagt», berichtet Tirez. Die Blutung war anfangs zu stark für eine Operation. Als Auswirkung davon und unter starkem Medikamenteneinfluss, begann Tirez im Spital zu halluzinieren und paranoide Vorstellungen zu entwickeln. «Ich war davon überzeugt, dass ich in ein Labor entführt worden war, für medizinische Experimente missbraucht und gegen meinen Willen festgehalten werde.» Er habe Fluchtpläne geschmiedet und etwa seinen Eltern davon erzählt. «Für meine Angehörigen muss diese Zeit der absolute Horror gewesen sein. Noch 100-mal schlimmer als für mich selbst.»

Ein Stehaufmännchen

Glücklicherweise besserte sich Tirez Zustand nach einer Weile soweit, dass man ihn doch noch operieren konnte. Und danach ging es überraschend schnell wieder besser. «Ich bin ein Stehaufmännchen», sagt Tirez. «Das Leben hat mir schon so manchen Tiefschlag verpasst.» So war die Hirnblutung nicht der einzige gesundheitliche Schicksalsschlag in seinem noch jungen Leben. Auch eine Krebserkrankung hat er bereits überstehen müssen. Und auch beruflich gab es immer wieder Rückschläge. Gleich zwei Mal musste er mit seinem «Stiefelchnächt» trotz grossem Erfolg aus der Bremgarter «Sonne» ausziehen. «Es nützt nichts zu hadern. Du musst einfach weitermachen. Schlussendlich hat man solche Dinge nicht in der eigenen Hand.» Nach vier Wochen auf der Intensivstation ging Tirez wieder nach Hause und machte dort weiter, wo er aufgehört hatte. Auf die verordnete Reha verzichtete er. «Ich habe schliesslich ein Restaurant zu eröffnen.»

Saisonal und regional

Ein Restaurant, das durch und durch Juri Tirez ist. Bis ins kleinste Detail hat er es nach seinen Vorstellungen konzipiert und gestaltet. Und so widerspiegelt das «Genusswerk» auch ein Stück weit seine Seele und seinen Charakter. «Ich hatte von Anfang an alles genau im Kopf, wie es aussehen soll», sagt Tirez. Und so wurde es auch umgesetzt. Von den massangefertigten Holztischen über die liebevoll dekorierten Backsteinmauern bis hin zu den originellen Lampen, die den kleinen, gemütlichen Innenraum in ein warmes Licht hüllen. Ausserdem findet man unter dem Interieur des «Genusswerks» auch viele Unikate, die Tirez irgendwo gefunden hat. Antiquitäten aus entsprechenden Liebhaber-Läden in Frankreich etwa, die ihm ins Auge gesprungen sind. Überhaupt ist das neue Restaurant französisch angehaucht. «Ich bin ein grosser Frankreich-Fan», sagt Tirez. «Auch von der französischen Küche.» Deshalb wird im «Genusswerk» auch mediterrane Kost angeboten.

Das Menü soll alle drei Wochen wechseln und sich an die saisonal verfügbaren Lebensmittel anpassen. Wann immer möglich, kommen die Zutaten dafür aus der Region und wurden nachhaltig produziert. «Frische ist unser oberstes Gebot», sagt Tirez. Und Exklusivität. «Meine Philosophie ist es, dass die Leute in einem Restaurant etwas zu essen kriegen, dass sie nicht so ohne Weiteres auch zu Hause kochen könnten.» Ein Restaurant-Besuch solle sich lohnen und ein aussergewöhnliches Geschmackserlebnis sein. Das sei seiner Meinung nach die Raison d’Être eines Gastronomiebetriebes. «Und dafür haben wir auch Profiköche, die sowas gelernt haben und können.»

Zurückhaltung lernen

Innerhalb des vorgegebenen Konzepts hat das fünf köpfige «Genusswerk»-Team viele Freiheiten und kann das Restaurant selbstständig führen. Juri Tirez will im Hintergrund bleiben. «Ich muss lernen, mich zurückzunehmen.» Auch beim «Stiefelchnächt» soll seine Frau künftig das Gesicht des Betriebs sein. Und Zurückhaltung ist auch geboten. Ganz der Alte ist Tirez nach seiner Hirnblutung nämlich noch nicht. «Ich kann mich beispielsweise nicht lange konzentrieren.» Auch Sport könne er schon länger nicht mehr uneingeschränkt betreiben. «Ich vermisse vor allem das Surfen», sagt der Wirt, der in Bremgarten einst mit einem Surfladen Fuss gefasst hatte. Stattdessen geht er als Ausgleich gerne spazieren. «Ohne Ziel. Wohin mich meine Füsse tragen und solange ich Lust habe.»

In den kommenden Jahren will Tirez weitere Projekte in Bremgarten anpacken. «Ich habe noch so viele Ideen», sagt er. Doch was treibt einen wie ihn an? Warum tritt er nach all den Schwierigkeiten in der Vergangenheit nicht etwas kürzer? «Ich mache es einfach gerne und es geht mir gut dabei, wenn die Leute Freude an meinen Projekten haben. Ausserdem ist das Leben zu kurz dafür, Dinge nicht zu tun.»

Hat er keine Angst um seine Gesundheit? Davor, dass das «Genusswerk» floppt? Oder davor, dass der «Stiefelchnächt» die Coronapandemie nicht überlebt? «Doch, natürlich habe ich Angst. Eigentlich immer», antwortet er mit einem Lächeln. «Doch davon darf ich mich nicht leiten lassen.» Stattdessen will er seine Projekte mit Leidenschaft weiterverfolgen und alles dafür geben, was er hat. «Mehr kann ich nicht tun. Und weniger auch nicht.» --huy

«Genusswerk»-Eröffnung: Samstag, 9. Oktober, Obertorplatz 1.


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