Der Sturz auf der Höllenbahn

  15.01.2021 Sport

Serie «Freiämter Olympioniken»: Daniel Schmid aus Hägglingen – Olympia 2010 in Vancouver

In Kurve 13 passierte es: Der Bob von Daniel Schmid verliert die Kontrolle und stürzt. Sein Anschieber Jürg Egger musste ins Spital. Schmid kritisierte danach den «höllisch schnellen Eiskanal» und verzichtete auf den Olympia-Start 2010. Das gab für den Freiämter Lob und Spott gleichzeitig. Heute sagt er: «Ich würde es wieder so machen.»

Stefan Sprenger

«Ich werde ganz sicher nicht mehr diese Bahn runterdonnern. Ich bin doch nicht lebensmüde.» Daniel Schmid erlebt im Februar 2010 statt eines erfüllten Bubentraums den Olympia-Albtraum. Im fünften von sechs Trainingsläufen an den Olympischen Spielen in Vancouver kippt sein Bob in der Kurve 13. Ein Schockmoment. Anschieber Jürg Egger wird im Ziel notfallmässig behandelt und muss mit einer Verletzung an der Halswirbelsäule ins Spital. «Es war ein Fahrfehler von mir», sagt Schmid. «Aber diese Bahn verzeiht keine Fehler.» Der Freiämter sagt nach diesem Sturz seine Olympia-Teilnahme ab.

Heute im Nationalturnen aktiv

Januar 2021. Daniel Schmid sitzt in seinem heimeligen Zuhause in Hägglingen. Hier lebt er mit Frau Karin (45) und den Kindern Max (9) und Lena (8). Nach seinem Karriereende 2010 (gleich nach Olympia) widmete er sich vermehrt seiner Familie, dem Beruf und anderen Sportarten. Dem STV Hägglingen ist der frühere Schwinger und Turner stets treu geblieben. Schmid ist mit dabei, als man einen Nationalturnverein im Freiamt gründet. Dort ist er heute Trainer. «Rund 15 Kinder sind dabei, es dürften noch mehr sein», meint Schmid und ruft indirekt dazu auf, dass Eltern ihre Kinder ins Training nach Aristau schicken. «Es ist eine tolle Basissportart, und es wäre schön, wenn es populärer werden würde.» Schmid ist auch technischer Leiter im kantonalen Nationalturnverband. Er, der am eidgenössischen Turnfest in Frauenfeld 2007 einen Podestplatz holte, ist nur noch im Steinheben für den STV Hägglingen aktiv.

Die Erinnerungen gehen zurück an 2010. «Schweizer Bobpilot boykottiert die Höllenbahn», titeln Medien aus aller Welt. «Die Menschen haben diese Schlagzeilen nicht vergessen», sagt der Hägglinger und fügt an, dass er heute noch auf die Geschehnisse von damals angesprochen wird.

Wenn er an Vancouver zurückdenkt, dann wird Schmid ruhig und gefasst. «So habe ich mir das nicht vorgestellt», meint er. Wenige Wochen zuvor gewinnt er in Österreich die Bronze an der Europameisterschaft. Sein grösster Erfolg. Schmid darf an die Olympischen Spiele. Ein Traum wird wahr. Ein Traum, der zu einem Albtraum wird. Auf der schnellen Bahn in «Whistler» stürzt er zweimal. Das zweite Mal heftig. Die Bilder, wie sein Anschieber Jürg Egger nach dem Sturz in den Krankenwagen geladen wird, und er nicht wusste, wie es ihm geht, haben sich in seinem Gedächtnis eingebrannt. «Es hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen», sagt der 44-Jährige.

Wie er zum Bob kam und seine Frau kennenlernte

Heute steht er mit beiden Beinen in einem harmonischen Leben. «Ja, ich bin happy», sagt er. Ein Blick in sein Gesicht hätte genügt, um dies zu erkennen. Stolz erzählt er von seinen beiden sportlichen Kindern. Max geht ins Nationalturnen, Schwingen, Ringen und in die Jugendriege. «Er macht fast zu viel», lacht Schmid. Seine Tochter Lena ist in der Meitliriege in Hägglingen, im Leichtathletik beim TV Wohlen und spielt zudem Akkordeon. «Meine Kids sind mein grösstes Glück.»

Für dieses Familienglück brauchte Schmid natürlich die perfekte Frau. «Die habe ich», sagt er lachend. Kennengelernt hat er seine Karin durch den Sport. Um die besondere Kennenlerngeschichte von Daniel und Karin Schmid zu erzählen, muss man ein wenig ausholen und erfährt gleichzeitig, wie er überhaupt zum Bobsport kam.

1997: Daniel Schmid schwingt am Guggibad-Schwinget. Martin Annen, Schwinger und Bobpilot, suchte dort Freiwillige, die den Bobsport ausprobieren möchten. Schmid versucht es – und ist sofort fasziniert von der schnellen Sportart im Eiskanal und wird später selbst Pilot. Drei Jahre später – an den Schweizer Bob-Meisterschaften in St. Moritz – steht Karin Bissig an der Bobbahn. Ihr Bruder ist Stefan Bissig, ein eidgenössischer Kranzschwinger und guter Freund von Martin Annen. «Deshalb war sie da. Wir haben uns dort kennengelernt, und einige Zeit später hat es dann gefunkt», erzählt Daniel Schmid.

Als Buschauffeur ist er manchmal der «Anseichpfosten»

Der Verzicht auf das Olympia-Rennen in «Whistler» hallt bis heute nach. «Aus der deutschen Bevölkerung erhielt ich viel Zustimmung.» Es sei ein guter und mutiger Entscheid. Das war für Schmid eine Bestätigung auf den Olympia-Rückzug. «Die Fahrer müssen immer mehr ans Limit gehen. Das Spektakel ist im Bobsport wichtiger als die Gesundheit der Athleten», sagt er. Auch deshalb wollte er ein Zeichen setzen.

Der Grund für den fatalen Sturz sucht er auch bei sich selbst. «Der Schlitten war neu und aggressiv. Diese schnelle Bahn und mein Fahrstil waren nicht kompatibel. Am Ende war es mein Fahrfehler, der zum Sturz führte. Aber die Bahn hat Passagen, die viel zu scharf sind.» Anschieber Jürg Egger ging es Tage später wieder gut.

Nach Olympia, im Mai 2010, beendet Schmid seine Bob-Karriere. Doch auch heute noch sitzt er ab und zu im Schlitten und donnert den Eiskanal in St. Moritz runter. Dort bietet er Gästefahrten an. «Eine grosse Leidenschaft mit kleiner Entschädigung», nennt er diese «Taxi-Fahrten», wo rund 140 km/h erreicht werden.

Auch beruflich chauffiert er Menschen durch die Gegend. Er arbeitet seit 2017 bei der «Geissmann Bus AG» in Hägglingen als Mechaniker und Buschauffeur. Ausgangspunkt für die verschiedenen Routen ist immer der Bahnhof in Wohlen. Von hier aus geht es ins ganze Freiamt. «Eine tolle Abwechslung zum Mechaniker-Job», findet er. Im Bus kann er jeweils die Stimmung der Menschen erkennen. «Momentan spürt man die Unsicherheit der Leute», so Schmid. Manchmal kriegt er Lob und ein «Danke fürs Fahren», und manchmal sei er der «Anseichpfosten» der Fahrgäste.

Grosses Lob an die Berikerin Melanie Hasler

Auch 2010 musste er in seiner Heimat einiges einstecken wegen seines Olympia-Verzichts. Aus der Schweiz spürte er nur wenig Zuspruch. «Viele sagten, sie finden den Entscheid gut. Gedacht haben sie: Was bist du denn für eine Pfeife.» Der bodenständige Schmid nimmt dies gelassen und sagt: «Es war ein Bauchentscheid. Ich würde es heute wieder so machen.»

Daniel Schmid ist mit dem Bobsport nicht nur durch die Gästefahrten in St. Moritz verbunden. Er verfolgt die Sportart eng. «Nach einem Loch in den letzten Jahren sieht es momentan wieder gut aus. Es gibt einige starke Fahrer, und die Schweiz kann wieder eine Bobnation werden.» Besonderes Lob hat er für die Berikerin Melanie Hasler übrig (die an diesem Wochenende am Weltcup in St. Moritz startet). Die beiden Freiämter Schmid und Hasler haben sich letztes Jahr in St. Moritz kennengelernt. Seine Meinung: «Sie ist ein riesiges Talent mit starken körperlichen Voraussetzungen und viel Willen. Sie hat das Feuer für den Bobsport entfacht. Ich glaube, sie hat das Potenzial für eine Medaille an den Olympischen Spielen.»

Dies blieb ihm verwehrt. Und auch wenn er auf den Start in Vancouver 2010 verzichtete, spricht er sehr positiv über diese Erfahrung. «Sport ist Lebensschule. Die positiven Erlebnisse überwiegen total – egal ob im Schwingen, im Nationalturnen oder im Bobfahren», meint Schmid und erzählt von der eindrücklichen Eröffnungsfeier an Olympia. «Gigantisch. Tausende Athleten aus der ganzen Welt, Millionen Menschen vor den TV-Bildschirmen – und auch wenn wir Schweizer fast zwei Stunden im Korridor auf unseren Einlaufmarsch warten mussten, war es ein absolutes Highlight meiner Karriere.»

Und so sind die Olympischen Spiele in Vancouver 2010 trotz Schreckenssturz und Startverzicht irgendwie doch ein wahr gewordener Bubentraum.


Start in die Olympia-Serie

Daniel Schmid macht den Anfang der Serie «Freiämter Olympioniken». In den kommenden Ausgaben werden die weiteren Olympia-Teilnehmer aus dem Freiamt vorgestellt und ihre Geschichte erzählt. Es werden rund ein Dutzend Olympioniken sein.


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