Auf ein Essen mit Federer

  26.01.2021 Ringen

Reto Bucher war Olympiateilnehmer 2004

Aus dem kleinen Mühlau zur Wiege der Olympischen Spiele. Ringer Reto Bucher startete an Olympia 2004 in Athen.

Rückblickend sieht es wie eine grosse Enttäuschung aus. Reto Bucher verlor an den Olympischen Spielen 2004 im Bronze-Kampf und verpasste so ganz knapp eine Medaille. Im Vorfeld der Spiele hat ihm allerdings niemand auch nur einen Sieg zugetraut.

Auch sonst war die Olympiateilnahme ein besonderes Erlebnis für den Mühlauer. Er konnte viele Grössen des Sports treffen. Unter anderem Roger Federer. --jl


Sieger der Herzen

Serie «Freiämter Olympioniken»: Reto Bucher aus Mühlau – Olympia 2004 in Athen

In Athen hat Reto Bucher knapp eine Medaille verpasst. Für das grosse Ziel Peking 2008 konnte er sich nicht qualifizieren. Der Freiämter Ringer und Olympia – es scheint im ersten Moment die Geschichte eines Pechvogels zu sein. Ist es aber nicht.

Josip Lasic

«Bloss nicht der Russe oder der Kubaner», sind die Gedanken von Reto Bucher vor dem olympischen Turnier in Athen 2004. 20 Ringer starten im Greco-Ringen bis 74 kg. Zwei davon sieht der Freiämter als Angstgegner. Den Kubaner Filiberto Azcuy und den Russen Varteres Samugarshev. «Ich habe die beiden an den Olympischen Spielen 1996 und 2000 im Fernsehen verfolgt und war schwer beeindruckt», erzählt der Mühlauer. Azcuy gewinnt sowohl 1996 in Atlanta als auch 2000 in Sydney eine Goldmedaille. Samugarshev holt in Australien ebenfalls Gold. «Ich erinnere mich noch, wie ich als junger Ringer einen Griff von Azcuy im Fernsehen gesehen habe. Ich versuchte, ihn im Training und in den Kämpfen zu kopieren. An diesem Griff habe ich so lange getüftelt und ihn für mich optimiert, dass es einer meiner besten Griffe wurde.»

Bis zum Kampf um den 3. und 4. Platz kann der damals 22-Jährige seinen beiden Angstgegnern aus dem Weg gehen. Als es um die Bronzemedaille geht, ist der Russe Samugarshev sein Gegner. Er bezwingt Bucher mit 10:0. Der Freiämter ist dennoch zufrieden. «Damals hat niemand gedacht, dass ich überhaupt einen Kampf gewinne.»

In der Primarschule von Olympia geträumt

Heute ist Reto Bucher 38 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Er sitzt in seinem Büro in Mühlau. Der gelernte Elektromonteur arbeitet im Aussendienst der «Hutter Baumaschinen AG». Bucher erzählt von seinem Erlebnis in Athen. «Damals habe ich das knappe Verpassen der Medaille nicht so stark beachtet. Das Erfolgserlebnis war grösser», so der Olympionike. «Dieser Gedanke kam erst später.» Bitter für Bucher: Athen waren die letzten Olympischen Spiele, wo der 3. und der 4. Platz ausgekämpft wurden. Seit Peking 2008 erhalten beide Halbfinalverlierer eine Bronzemedaille. «Wenn mich jemand heute darauf anspricht und sagt: ‹War ja schon noch knapp damals›, ärgert mich das mehr, als es 2004 der Fall war.» Bucher lacht, während er das erzählt. So schade es ist, dass er die Medaille verpasst hat – das Erlebnis Olympia lässt er sich rückblickend davon nicht vermiesen.

Denn die Olympischen Spiele sind seit frühester Kindheit der Traum von Reto Bucher. An der Hochzeit mit seiner Frau Cornelia zaubert Buchers Mutter einen Aufsatz hervor, den er in der Primarschule verfasst hat. «Ich war in der 3. oder 4. Klasse, als dieser Aufsatz entstanden ist. Das Thema war, dass es mein Traum ist, eines Tages an den Olympischen Spielen teilzunehmen. »

RS-Freiamt-Pionier in der Ukraine

Stolz erzählt Bucher von seinen beiden Töchtern. Sie sind sieben und fünf Jahre alt. «Keine Ringerinnen», sagt er lachend. «Wobei sie schon begeistert waren, wenn ich sie an die Kämpfe der RS Freiamt mitgenommen habe. Manchmal kämpfen sie auch untereinander», erzählt er. Wenn sie dem Sport tatsächlich nachgehen wollen würden, wäre er nicht derjenige, der sich ihnen in den Weg stellen würde. «In der Schweiz hat Frauen-Ringen aber noch nicht den Stellenwert wie in gewissen anderen Ländern.»

Ausgerechnet 2004 war Frauen-Ringen das erste Mal olympisch. Genau an den Spielen, an denen Bucher dabei war. Wobei der Plan eigentlich ganz anders aussah. Das grosse Ziel waren die Spiele 2008 in Peking. Um das Jahr 2000 hat RS-Freiamt-Greco-Trainer Andrey Maltsev – damals noch ausländische Verstärkung der Freiämter – Bucher und Ivan Kron in seine Heimat, die Ukraine, mitgenommen. «Er war dort einer der Athleten im Nationalkader und war der Meinung, dass Ivan und ich Potenzial haben und mit ihnen mittrainieren sollen.» Später sollten Ringer der RS Freiamt mit viel Potenzial und hohen Zielen wie Pascal Strebel oder Randy Vock einen ähnlichen Weg gehen. Bucher und Kron waren die Pioniere. «Damals war es auch ein Kulturschock. Wir waren nicht etwa in der Hauptstadt Kiew, sondern irgendwo in der Pampa, wo Andrey aufgewachsen ist und wo die Ukrainer trainiert haben», erklärt Bucher. «Andrey und die Trainings in der Ukraine waren enorm wichtig für mich.»

In dieser Zeit hat der Mühlauer leistungstechnisch einen grossen Sprung nach vorne gemacht. «Das Ziel war 2008, aber ich habe gesehen, dass eine Teilnahme 2004 bereits realistisch ist», berichtet Bucher. «Die ersten acht von der Weltmeisterschaft waren direkt für Olympia qualifiziert. Ich dachte, dass es möglich sein muss, unter den nächsten zwölf auf der Welt zu sein.» Ihm gelingt das. Sein Olympia-Traum wird wahr.

Ein Unglück kommt selten allein

Nach 2004 nimmt Buchers Karriere erst richtig Schwung auf. Er gewinnt Sponsoren für sich, kann professionell trainieren. 2005 wird er Fünfter bei der Weltmeisterschaft, 2006 Siebter bei der Europameisterschaft. 2007 holt der Freiämter den Vize-Europameister-Titel. Der Qualilkation für Peking 2008 scheint nichts im Weg zu stehen.

Die erste Gelegenheit, sich zu qualifizieren, bietet sich Bucher an der Weltmeisterschaft im gleichen Jahr. Der Ringer erkrankt allerdings vorher an einer Angina. Ausser Form tritt er an der WM in Usbekistan an und wird nur 33. Im Februar 2008 stirbt völlig überraschend Buchers Vater. Kurz darauf reisst sich der Athlet das Innenband. «Ich war komplett neben der Spur nach dem Tod meines Vaters und wollte mir das nicht eingestehen. Dann habe ich mich verletzt, weil ich mit dem Kopf einfach nicht bei der Sache war.»

Bucher bestreitet zwei Qualifikationsturniere. Er verpasst Peking. «Aus heutiger Sicht betrachtet, war es völlig klar, dass es nicht reichen wird. Alles kam zusammen. Ich war ausser Form, mental nicht bei der Sache und hatte überhaupt kein Selbstvertrauen mehr. Damals wollte ich nicht aufgeben und es zumindest probieren», so der Freiämter. «Umso glücklicher bin ich, dass ich 2004 bereits bei Olympia dabei war.»

Am Ursprungsort von Olympia

2004 war ohnehin ein besonderes Jahr, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Vor allem als Greco-Ringer. Olympia in Athen, der Wiege der Olympischen Spiele, und dann noch erst in einer Disziplin, die schon in der Antike Teil der Olympischen Spiele war. «Das war etwas Besonderes», erzählt der Ringer. «Ebenso wie die festliche Eröffnung und das olympische Dorf. Wir sind eines Tages durch das Dorf spaziert, plötzlich stand der äthiopische Langstreckenläufer Haile Gebrselassie vor uns. Wir haben mit ihm gesprochen und Fotos gemacht.»

Auch neben den US-amerikanischen Basketballern zu stehen, hinterliess bei Bucher Eindruck. Ebenso wie Roger Federer. «Er war damals schon die Nummer eins auf der Welt, Teil des Schweizer Teams und ein absoluter Star im olympischen Dorf.»

«Es hiess, dass ich nach einem Kampf draussen bin»

Wie zahlreiche Mitglieder der RS Freiamt hat Reto Bucher seine Lehre als Elektromonteur bei der «Bütler Elektro Telecom» absolviert. Sein Chef, Hermann Bütler, war früher erfolgreicher Leichtathlet. «Er hat mir versprochen, dass er zuschauen kommt, wenn ich mich für die Olympischen Spiele qualifiziere.» Tatsächlich kam Bütler mit seiner Frau und dem ehemaligen RS-Freiamt-Trainer Adi Bucher nach Athen. «Er hat sich im Vorfeld informiert, wie meine Chancen stehen. Da hiess es, dass ich nach einem Kampf draussen sein werde und er tags darauf etwas anderes anschauen kann.»

Stattdessen sah Hermann Bütler, der für den nächsten Tag schon Tickets für die Leichtathletik-Wettkämpfe hatte, wie Reto Bucher zuerst den Weissrussen Aliaksandr Kikinou und anschliessend den Chinesen Sayinjiya bezwang. «Er hat dann seine Tickets umgetauscht, weil er doch lieber mich sehen wollte am nächsten Tag», erzählt Bucher lachend. Am nächsten Tag feierte der Mühlauer einen weiteren Erfolg gegen den Kasachen Danil Khalimov, bevor ihn der Finne Marko Yli-Hannuksela im Halbfinal stoppte und es anschliessend zum Bronzekampf gegen den Angstgegner aus Russland kam.

Niemand hat ihm einen Sieg zugetraut. Am Ende wurden es drei. Mit seiner Leistung ist er zumindest ein Sieger der Herzen und löst im Freiamt eine Ringer-Euphorie aus, die bis heute nachhallt.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote