Niederwiler wird News-Chef

  11.07.2017 Niederwil

Der Car knallt in die Tunnelwand. 22 Kinder aus Belgien und Holland sterben. Wenige Stunden nach dem schrecklichen Unfall im Sierre-Tunnel im Wallis besteigt Sandro Inguscio ein Flugzeug. Seine Destination: die Heimat der toten Kinder. Sein Ziel: Storys schreiben über das schlimmste Busunglück der letzten 30 Jahre in der Schweiz. «Es war mit Abstand mein prägendstes Erlebnis», erzählt Sandro Inguscio.

Vor Ort warten bereits Hunderte Journalisten aus aller Welt. Die Eltern der toten Kinder sind bereits alle unterwegs in die Schweiz. Einzig ein Vater bleibt zu Hause. Und der ist natürlich gefragt bei allen Journalisten. Der ehrgeizige Inguscio macht ihn ausfindig und schafft es, dass der Vater ihm als einzigem Journalisten seine Geschichte und Hintergründe erzählt. Es ist das Jahr 2013. Inguscio ist schon längst ein geübter Journalist. «Er vertraute mir die Lebensgeschichte seiner toten Tochter an, zeigte mir Bilder von ihr. Während des Gesprächs fiel mir ein Brief auf, der gesondert der restlichen Post auf einer Ablage lag. Ich fragte den Vater, was es mit ihm auf sich habe.» Der Vater übersetzt ihm den Brief, von der von seiner Tochter am Morgen vor der tödlichen Heimfahrt geschrieben wurde. Am nächsten Tag ist die Geschichte von «Emma» auf der Titelseite des «Blicks» «Emmas Schicksal stand stellvertretend für die Schicksale aller Kinder.»

Traum vom Sportreporter

Heute, vier Jahre später, sitzt Sandro Inguscio in einem Café in Zürich. Er hat Feierabend, trinkt eine Stange Bier. «Nach der Rückkehr aus Belgien wurde ich an einen Mord in Basel geschickt.» Inguscio, ein muskulöser Mann mit italienischen Augen, sagt diesen Satz so salopp, dass es surreal wirkt. Dünnhäutigkeit ist keine Ei-genschaft eines «Blick»-Journalisten.

Der 31-jährige Inguscio nimmt einen  Schluck von seinem Bier und beginnt, seine eindrucksvolle Geschichte zu erzählen. Inguscio wächst in Niederwil auf und hat wie jeder Junge das Ziel, einmal Profifussballer zu werden. An der Bezirksschule ändert er seinen Traum. Fussballprofi erscheint unerreichbar. Fortan will er Sportreporter werden. Und er will zum «Blick». Denn sein Grossvater – ein italienischer Einwanderer – lernte auch mithilfe des «Blicks» die deutsche Sprache. 2006 sieht er ein Inserat des «Bremgarter Bezirks-Anzeigers/Wohler Anzeigers». Gesucht wird ein Sportredaktor. Ausbildung am Medienzentrum «MAZ» inklusive. «Eine Traumstelle», sagt Inguscio, damals 19 Jahre alt. «Ja, ich will diesen Job», sagt er sich. Es folgt ein zähes Auswahlverfahren. Und viele bange Tage des Wartens. Schliesslich ruft ihn Daniel Marti, Chefredaktor dieser Zeitung, an. Ein Telefon, das sein Leben verändert. Er erhält die Stelle. «Es war der schönste Tag meines Lebens.»

FC Wohlen boykottiert ihn

Bei dieser Zeitung sorgt Inguscio als Jüngster im Redaktionsteam oft für Wirbel. Er versucht damals schon bunt, unterhaltsam und leicht überspitzt zu schreiben – kurz: Sandro Inguscio macht Boulevard. Er lacht und sagt: «Ich habe in dieser Zeit ein paar Leute hässig gemacht.» Der gesamte FC Wohlen boykottiert ihn zeitweise aufgrund seiner aggressiven Schreibweise. Kein Spieler darf mit ihm reden. Der damalige Trainer Martin Rueda spricht selbst heute noch nicht mit ihm. «Für mich war es eine Anerkennung, dass ich auf den Punkt gekommen bin.» Bis Inguscio diesen Satz äussert, überlegt er sekundenlang. Denn er ist ein Typ, der sich alle Worte sehr wohl überlegt. «Wenn ich etwas will, dann kriege ich es», sagt er als Nächstes. Und er sagt sich erneut: «Ja, ich will», als er eine Anfrage des «Blicks» erhält. 2010 geht er zur grössten Boulevard-zeitung der Schweiz. «Mein neuer  schönster Tag in meinem Leben.»  Der «Blick» wurde auf ihn aufmerksam, weil er an einem Medientermin (es ging um einen möglicherweise pädophilen Lehrer aus Wohlen)  mit seiner Art imponierte.

Inguscio, 23 Jahre alt, war wieder der Jüngste im Team. «Jetzt konnte ich zeigen, was ich kann.» Seine erste Story: der Fall «Kneubühl», der Amok-Rentner von Biel. Fast eine Woche lang blieb Inguscio vor Ort in Biel, suchte nach Geschichten. Er schläft einmal sogar in einer Abstellkammer eines Hotels. Er schafft es, eine spannende Story zu schreiben. Als jüngster, als frischgebackener «Blick»-Mitarbeiter, als Küken. Fortan war er ein «Witwenschüttler». Im Journalisten-Fachjargon ist dies ein Reporter, der Storys macht mit
Hinterbliebenen von Unglücksopfern oder allgemein Menschen, denen gerade Leid widerfahren ist.

Von «Witwenschüttlern» und schlechtem Gewissen

Die Vorgehensweise der «Witwenschüttler» gilt oft als dubios und befindet sich in einer ethischen Grenzzone. Drohungen, um an Geschichten zu kommen? Gerüchte darüber gibt es immer wieder. Inguscio sagt dazu: «Man muss immer mit offenem Visier an die Sache heran gehen. Mein Ziel war und ist es immer, dass man mit den Betroffenen, so schwierig ihre Situation auch ist, versucht, einen gemeinsamen Weg zu finden. Es ist ihr Schicksal, deshalb sollen sie auch das Recht haben, darüber zu sprechen.»
Auf die Frage, ob ihn schon mal schlechtes Gewissen geplagt hat, weil eine seiner Storys ein Menschenleben negativ verändert hat, antwortet er: «Den Überbringer schlechter Nachrichten zu verurteilen war schon im Mittelalter beliebt. Entscheidend ist aber, wie man mit den Betroffenen umgeht. Man muss sich der schwierigen Situation, in der sich das Gegenüber befindet, immer bewusst sein – und den Betroffenen dies auch spüren lassen.»  

Inguscio hat einen Strafregistereintrag. Kassiert hat er die Anzeige, als er den Stadionverhinderer des FC Aarau in einem der Texte als «Totengräber» und «Querulanten» bezeichnete.

Nur 1,5 Jahre später wechselt er in die Sportredaktion. Natürlich sagte er: «Ja, ich will.» Der Sportchef des «Blicks», der Waltenschwiler Felix Bingesser, holt ihn ins Team. «Ich habe immer davon profitiert, sehr gute Chefs zu haben. So auch mit Felix Bingesser und Daniel Marti. Ich bin ihnen beiden heute sehr dankbar. Sie haben mich nie geschont, sondern immer vorangetrieben. Gewusst, wie sie das Maximum und mehr aus mir rauskitzeln können. Und immer an mich geglaubt.» Beispielsweise, als Inguscio 2006 die Aufnahmeprüfung für das «MAZ» im ersten Anlauf nicht schaffte, erhält er von Marti eine zweite Chance.

Inguscio nimmt wieder einen grossen Schluck vom Bier und spricht über seine Zeit beim Sport. Er bezeichnet sich als Bindeglied zwischen Sportler und Leser. «Als Journalist besucht man Orte, wo normale Menschen nicht hinkommen.» Der Freiämter war hauptsächlich zuständig für den FC Basel. «Ich sah die grössten Stadien, die grössten Spieler unserer Zeit.» Der kleine Junge aus Niederwil steht plötzlich an der Liverpooler Anfield Road und interviewt die Fussballstars. Sein Traum als 12-Jähriger ist jetzt Realität. «Dafür musste ich Dreck fressen und kämpfen. Und vor allem eines: wollen.»

25 Mitarbeiter unter sich

Vier Jahre ist er für den FC Basel verantwortlich. Dann geht er für einige Monate in die USA. Er arbeitet für «Blick online». Und trifft Stars wie Basketballer Dirk Nowitzki oder besucht eine Wahlveranstaltung von Donald Trump. Zurück in der Schweiz wird er Blattmacher Online beim «Blick». Wenig später die Anfrage, ob er Nachrichtenchef der «Blick»-Gruppe werden möchte. Seine Antwort: «Ja, ich will.» Mit 31 Jahren ist er
der jüngste Ressortleiter. «Es ist eine Ehre und eine Chance.»

Am 1. Juni hat er diesen Job begonnen. Er hat 25 Mitarbeiter unter sich. «Meine Leidenschaft und meine Erfahrung kann ich nun meinen Mitarbeitern weitergeben. Das macht Spass und stolz», lächelt er und fügt an: «Ich möchte meinen Traum jetzt leben und geniessen.» Seine Blitzkarriere hat den Peak erreicht – vorerst.
Denn sein jetziger Job ist anspruchsvoll. Und stressig. Jeden Morgen um 5.30 Uhr aufstehen. Und vor Mitternacht kommt er selten ins Bett. Privatleben? «Ein bisschen», sagt er. Aber für ihn, der fast alles dem Reportertraum unterordnet, erscheint die Arbeit nicht wie Arbeit, sondern Leidenschaft. «Und das muss es auch sein, denn sonst frisst es dich auf.» Seine «Work-Life-Balance» ist nicht optimal. Das ist sie nie gewesen. Er arbeitet zu viel und hat nur wenig Freizeit. «Ich könnte und sollte mehr abschalten. Aber ich will nicht.» Für ihn ist es kein Stress, wenn er gestresst ist.

Inguscio nimmt den letzten Schluck vom Bier. «Zahlen, bitte.» Nach einem Blick auf sein Handy wirkt er gehetzt. Seine Freundin wartet auf ihn vor dem Ringier-Gebäude gleich um die Ecke. Unterwegs erzählt er, wieso er so ein guter Journalist ist: «Mich fasziniert das Leben in all seinen Facetten. Die besten Storys daraus packend erzählen zu können ist mein Antrieb. Und bevor ich mein Ziel erreicht habe, gebe ich keine Ruhe.» Inguscio verabschiedet sich und begrüsst Sekunden später seine Freundin. Die Hochzeit ist in Planung. Dann sagt Sandro Inguscio wieder: «Ja, ich will.»

Von Stefan Sprenger


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